Zum Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine

Warum der Westen der Schlüssel dafür ist, wie der Krieg enden wird

Orysia Lutsevych, Leiterin des Ukraine-Forums im Chatham House,  erläutert im Interview, warum die Geschlossenheit des Westens wichtig ist für den Frieden auf dem Kontinent, welche Rolle die internationale Zivilgesellschaft dabei spielt und wie der Krieg die Position Russlands in der Welt verändert. 

Text
Julia Rommel
Bilder
IMAGO/Addictive Stock/OleksandraxTroian
Datum
23. Februar 2023

Orysia, trotz aller Hoffnungen auf ein schnelles Ende dauert der Krieg in der Ukraine auch ein Jahr nach dem russischen Angriff an. Sie stehen in Kontakt mit vielen Menschen in der Ukraine. Was erleben sie?

Die Ukraine ist von der Angst in den ersten Stunden und Tagen während der umfassenden Invasion zur Stärke übergegangen. Anders als 2014, als der Krieg auf den Süden und Osten des Landes beschränkt war, ist die Ukraine seit Februar nirgendwo mehr sicher. Städte von Lwiw bis Charkiw, von Odessa bis Winnyzja wurden von russischen Raketen getroffen. Besonders schwierig für die Zivilbevölkerung ist der unmenschliche Angriff Russlands auf das Stromnetz, das die Lebensader eines jeden modernen städtischen Lebens ist. Aber die Menschen passen sich an. Inzwischen verfügen über 50 Prozent der kleinen Unternehmen und Geschäfte über Generatoren. Die Städte richten öffentliche „Punkte der Unbesiegbarkeit“ ein, an denen man sich kostenlos aufwärmen, Mobiltelefone aufladen und im Internet surfen kann. Die Botschaft lautet: Wir werden Widerstand leisten, und Russland wird es nicht gelingen, uns zur Unterwerfung zu zwingen. 

Erstaunlicherweise funktioniert die öffentliche Infrastruktur der Ukraine (Banken, Eisenbahnen und öffentliche Verkehrsmittel) noch weitgehend. Natürlich leiden die an der Frontlinie liegenden Städte stärker, und das Leben ist besonders hart für schwache Bevölkerungsgruppen und Kinder im Kriegsgebiet. Die Ukrainer sind zutiefst traumatisiert von den Kriegsverbrechen, die das russische Militär in den besetzten Gebieten begeht. Massengräber, Folterkammern und die Deportation von Kindern nach Russland - all dies deutet auf einen Krieg im Zeichen des Völkermords hin, den der Kreml gegen das ukrainische Volk führt. Aus diesem Grund sind so wenige Ukrainer (nur 11 Prozent) bereit, ihr Territorium aufzugeben, um Frieden zu erreichen. 
 

Zur Person

Orysia Lutsevych

leitet das Ukraine-Forum im Russland und Eurasia-Programm der Londoner Denkfabrik Chatham House. Als Robert-Bosch-Fellow verfasste sie das einflussreiche Buch „How to finish a revolution: civil society and democracy in Georgia, Moldova and Ukraine.“ Ihre Arbeit konzentriert sich auf den sozialen Wandel und die Rolle der Zivilgesellschaft beim demokratischen Übergang im postsowjetischen Raum.

Wie kann der Westen, wie können die Organisationen der Zivilgesellschaft am wirksamsten helfen?

Der Westen entscheidet darüber, wie dieser Krieg enden wird - nicht nur für die Ukraine. Ein geeinter entschlossener Westen ist der Schlüssel, um dem Frieden in Europa eine neue Chance zu geben. Wenn es Putin gelingt, seine Gebietsansprüche durchzusetzen, wird dies sein imperialistisches Regime nur ermutigen, noch weiter vorzudringen und das fortzusetzen, was er als die „Einnahme historisch russischer Gebiete“ bezeichnet. Deshalb leisten die westlichen Regierungen so viel militärische Unterstützung wie nötig, um die russische Armee auf ukrainischem Gebiet zu besiegen. Kyiw zu zwingen, mit einem Aggressor zu verhandeln, der einen völkermörderischen Krieg führt, wäre ein schwerer Fehler und hätte einen hohen Preis. 

Auch die internationale Zivilgesellschaft spielt eine Rolle. Die Ukraine verfügt über eine eigene, gut entwickelte und starke Zivilgesellschaft. Die Verbindung zu diesen Gruppen, die Bereitstellung finanzieller Unterstützung - aber auch ein starkes Solidaritätsnetzwerk - sind von entscheidender Bedeutung. Dies ist nur eine Möglichkeit, die ukrainische Heimatfront zu stärken. Eine im Dezember 2022 durchgeführte Umfrage von Chatham House unter zivilgesellschaftlichen Gruppen zeigt, dass sich über 60 Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen bereits während des Krieges mit der Zukunft der Ukraine befassen. Sie helfen ukrainischen Binnenvertriebenen, arbeiten mit lokalen und nationalen Regierungen an der Planung des Wiederaufbaus und unterstützen gefährdete Gruppen. Die Verbindung zwischen der ukrainischen und der europäischen Zivilgesellschaft wird für den künftigen Weg der Ukraine zur vollen EU-Mitgliedschaft entscheidend sein . Sie werden Unterstützung bei der Umsetzung europäischer Normen zur Bekämpfung des Klimawandels, für Lebensmittelsicherheit, Rechtsstaatlichkeit und andere Bereiche benötigen. 

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Wie sieht die aktuelle Situation in Estland und der Tschechischen Republik aus? 

Nachbarländer wie Polen und Moldawien haben enorme Anstrengungen unternommen, um Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Wie ist die Situation dort heute?

Die osteuropäischen Nachbarländer der Ukraine haben ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk unter Beweis gestellt. Sie haben ihre Türen für Millionen von Frauen und Kindern geöffnet. Auf diese Weise helfen sie, künftige Generationen zu sichern. Die Ukrainer:innen sind insbesondere Polen dankbar. Rund 180.000 Menschen haben im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens eine legale Arbeit in den Aufnahmeländern aufgenommen. Schulen haben Hilfslehrer:innen Ukrainisch beigebracht, um die Integration der Kinder zu erleichtern.

Die Republik Moldau war eines der Hauptziele für Menschen aus der Südukraine, vor allem aus der Region Odessa. Dies ist schwieriger geworden, da das Land zunehmend unter dem wirtschaftlichen Druck Russlands zu leiden hat. Im Oktober 2022 kürzte Gazprom die Gasimporte nach Moldawien um rund 30 Prozent, um die EU-freundliche Regierung unter Druck zu setzen. Jetzt versucht der Kreml, das Land von innen heraus zu destabilisieren. Die Lage ist sehr unbeständig, da regierungsfeindliche Proteste von Gruppen unterstützt werden, die mit Russland verbündet sind.

Der Krieg scheint festgefahren zu sein. Was, außer einer Niederlage der Ukraine, kann Russland dazu bringen, die Aggression zu beenden?

Es ist klar, dass Putin bereit ist, viele Männer im Krieg zu verheizen. Mehr als 200.000 Russen sind in der Ukraine bereits getötet oder verwundet worden. Das bedeutet, dass die einzige Möglichkeit, die Aggression zu stoppen, darin besteht, die russischen Truppen auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Aufgrund der starken Repression (in Russland ist es strafbar, von einem Krieg zu sprechen) gibt es bislang keinen sichtbaren öffentlichen Protest. Außerdem glauben viele Russen, dass der Krieg gerechtfertigt ist, um Russland und seine Eigenstaatlichkeit gegenüber der NATO zu verteidigen. Die Ukraine muss zusammen mit ihren Verbündeten gewinnen. Und alle Anstrengungen müssen auf die strategische Lieferung von Rüstungsgütern, die Ausbildung von Personal und die wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine gerichtet sein. Letztlich ist dies der einzige Weg nach vorn. Jedes andere Vorgehen wird einen größeren Krieg nur hinauszögern. 

„Die Ukraine muss zusammen mit ihren Verbündeten gewinnen…Jedes andere Ergebnis wird einen größeren Krieg nur hinauszögern.“

Zitat vonOrysia Lutsevych
Zitat vonOrysia Lutsevych

Analysten diskutieren darüber, inwieweit dieser Krieg die Position Russlands in der Welt verändert. Wie hat sich der Krieg auf das geopolitische Gleichgewicht der Kräfte ausgewirkt, wenn überhaupt?

Russland hat bereits mehrere strategische Verluste erlitten. Solange Putin an der Macht ist, kann es keine Beziehungen zu Russland geben. Das militärische Debakel in der Ukraine hat die russische Militärmacht geschwächt. Enorme Verluste an Männern und Material, eine fragwürdige Strategie und ein fehlender technologischer Vorsprung werden sich langfristig auf Russlands Waffenexporte und Partnerschaften im globalen Süden auswirken. Der Kreml hat einen seiner stabilsten Energiemärkte verloren, da sich Europa auf absehbare Zeit von russischen fossilen Brennstoffen abwendet. Vor allem aber hat Putin innerhalb Russlands einen turbulenten Prozess in Gang gesetzt, der zu Niedergang und Instabilität mit bislang unbekannten Folgen führen wird. 

Der Krieg gegen die Ukraine hat aber auch die Bündnisse der Demokratien jenseits des Atlantiks und im indopazifischen Raum gestärkt. Die EU hat die neue geopolitische Aufgabe angenommen und - zum ersten Mal in ihrer Geschichte - militärische Unterstützung für Kyiw finanziert. Die NATO wird bald neue Mitglieder - Finnland und Schweden - aufnehmen. Die USA, die im Gleichschritt mit ihren europäischen Partnern arbeiten, zeigen eine unerschütterliche Führungsrolle bei der Bereitstellung von Waffen, der Koordinierung der Militärhilfe von über 50 Staaten und bei der Offenhaltung der Kommunikationskanäle zur russischen Führung. Das zurückliegende Jahr hat gezeigt, dass Russlands nukleares Säbelrasseln zwecklos ist.

China hat mit einem erhöhten Maß an Vorsicht reagiert. Die USA haben bewiesen, dass sie vor Taten nicht zurückschrecken, wenn es darum geht, ihre Werte zu verteidigen. Peking dürfte es sich vor diesem Hintergrund gut überlegen, ob es eine militärische Lösung der Taiwan-Frage anstrebt. Für Taipeh wiederum ist die Fähigkeit der Ukraine, einen erfolgreichen Verteidigungskrieg gegen einen viel größeren Gegner zu führen, ein inspirierendes Beispiel. Je weiter Russland verliert, desto vorsichtiger wird China bei der Unterstützung von Putins Militärangelegenheiten sein. Die entschlossene Sanktionierung Russlands als Reaktion auf die Aggression dürfte für China ein warnendes Beispiel dafür sein, mit welchen Kosten es rechnen muss, sollte es Russland auch militärisch unterstützen.