Ungleichheit reduzieren

Visionen für eine gerechte digitale Zukunft

Wie müssen künftige Technologien, Plattformen und soziale Medien gestaltet sein, damit sie inklusiv und gerecht und damit offen für alle sind? Mit dieser Frage beschäftigten sich zwei Projekte, die im Förderprogramm „Reducing Inequalities Through Intersectional Practice“ von der Robert Bosch Stiftung gefördert wurden.

Text
Eva Wolfangel
Bilder
AdobeStock/Maskot
Datum
15. Juni 2022


Die Organisationen Chayn und End Cyber Abuse arbeiteten gemeinsam an politischen und technologischen Lösungen, um geschlechtsspezifische digitale Gewalt zu vermeiden und Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt ein sicheres Umfeld und Unterstützung zu gewährleisten. Die Aktivist:innen der feministischen Organisation „Superrr Lab“ erarbeiteten Prinzipien für eine gerechte und nachhaltige Gestaltung von Technologiepolitik und Digitalisierung.

„Uns ist es wichtig, Szenarien und Visionen zu entwickeln für eine inklusive digitale Zukunft“, erklärt Julia Kloiber von Superrr. Dabei gehe es auch darum, herrschende Narrative zu durchbrechen. 

„Das schneller-höher-weiter-Narrativ muss sich wandeln in eines von Nachhaltigkeit, Inklusivität und einer besseren und gerechteren Technologie.“

Zitat vonJulia Kloiber, Superrr Lab

Der erste Schritt des Superrr Labs habe darin bestanden, die entsprechenden Zielgruppen anzusprechen und sich mit ihnen auszutauschen – ein Prozess, der in der politischen Welt viel zu selten passiert: „Es gibt zu wenig Problembewusstsein“, sagt Kloiber, „nur wenige politische Entscheidungsträger:innen sind in Kontakt mit marginalisierten Gruppen.“ Diese von Beginn an einzubinden sei aber die Grundlage für eine gerechte digitale Zukunft. Das betont auch Projektleiterin Nushin Yazdani, die sich für das Projekt mit Forschenden, Aktivist:innen und Designer:innen ausgetauscht hat: „Wir haben angefangen mit der Fragestellung: Was muss sich verändern, damit das Internet ein Ort werden kann, in dem sich alle wohlfühlen können? Wir brauchen eine Art Manifest, wie eine gerechte Technologie-Politik aussehen könnte.“

Mit insgesamt 25 Personen unter anderem aus marginalisierten Gruppen hat Superrr schließlich in mehreren Workshops mögliche Schritte in Richtung gerechter öffentlicher digitaler Räume erarbeitet. Die im Rahmen der Förderung der Robert Bosch Stiftung entstandenen 12 Prinzipien für feministische Digitalisierung sollen nun weiterentwickelt und mit Entscheidungsträger:innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft diskutiert werden.

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Superrr Lab entwickelte die ersten Richtlinien für eine feministische Technologiepolitik sowie Zukunftsvisionen einer gerechtere Technologie für eine vielfältige Gesellschaft.

Hera Hussain, die Gründerin von Chayn - einer Organisation, die sich für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt einsetzt - hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Die Perspektiven und Stimmen von Betroffenen müssen von Anfang an und durch den ganzen Entwicklungsprozess von Technologien und Plattformen mit einbezogen werden.“ Hussain arbeitet bereits seit 2013 mit Chayn im Bereich sexueller Gewalt und unterstützt Überlebende von Missbrauch. Sie fragt: Welche Prinzipien für sichere und inklusive Orte aus der Offline-Welt können in die digitale Welt übertragen werden? „Wie können wir die gleichen Prinzipien online nutzen, um sicher zu stellen, dass wir auf eine gute Art auf traumatische Erlebnisse reagieren?“

Das Ergebnis sind Designprinzipien, die nun als „Orbits Field Guide“ Technologie-Unternehmen ebenso wie NGOs, Designer:innen, Forschenden und Entscheidungsträger:innen helfen sollen, aktuelle Herausforderungen und Lücken im Umgang mit geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt zu erkennen. Das Ziel ist, allen Beteiligten zu helfen, eine gute Praxis zu entwickeln, um Missbrauch durch und mit Technologie zu verhindern.

Die Beteiligten der beiden Projekte haben zudem zahlreiche politische Empfehlungen und Forderungen identifiziert. „Wir müssen weg von der individualistischen Perspektive“, sagt Kloiber, „wir übersehen oft die Folgen neuer Technologien für die gesamte Gesellschaft.“ Wichtig sei also eine gesamtgesellschaftliche Risikofolgenabschätzung. Als Beispiel nennt sie Facebook: „Der Konzern hat auch ein Profil von Menschen, die dort kein Konto haben, denn sie werden über ihre Freundinnen und Freunde getrackt.“ Das deckt die bisherige Gesetzgebung, beispielsweise der DSGVO, nicht ab – sie hat nur die direkt Nutzenden im Auge.

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Der Orbits Leitfaden  von Chayn und End Cyber Abuse enthält Designprinzipien, die intersektionale, traumasensible Antworten auf geschlechtsspezifische digitale Gewalt aus Sicht von Betroffenen geben. 

Nishma Jethwa von End Cyber Abuse - einem Zusammenschluss von Menschenrechtsanwält:innen, Forschenden und Aktivist:innen - fordert, dass auch der Gesetzgebungsprozess sowie politische und juristische Maßnahmen immer im Austausch mit Betroffenen entwickelt werden. „Ein intersektionaler Blickwinkel auf die Politikgestaltung wäre hier wichtig“, fordert Jethwa. Denn das führe zu einem besseren Verständnis der Erfahrungen von Überlebenden technikbasierter Gewalt, „einschließlich der Frage, wie sich das Geschlecht mit anderen Identitäten überschneidet.“ Das sei bisher nicht der Fall. „Das hat zur Folge, dass viele Missbrauchserfahrungen politisch und rechtlich nicht angemessen berücksichtigt werden und die Überlebenden keine Gerechtigkeit erfahren.“ Oder aber Gesetze könnten unbeabsichtigt die freie sexuelle Entfaltung und die körperliche Autonomie kriminalisieren, was verheerende Auswirkungen auf geschlechtliche und sexuelle Minderheiten hätte.

„Die Perspektiven und Stimmen von Betroffenen müssen von Anfang an und durch den ganzen Entwicklungsprozess von Technologien und Plattformen mit einbezogen werden.“

Zitat vonHera Hussain, Chayn

Hera Hussain wünscht sich, dass die Politik Technologie-Unternehmen noch mehr in die Pflicht nimmt. „Sie müssten mögliche schädliche Folgen von Anfang an analysieren und verhindern.“ Es müsse Konsequenzen geben für Unternehmen, die Täter:innen ungestraft davonkommen lassen – beispielsweise wenn diese private Bilder anderer herunterladen und diese damit erpressen. „Das kann extreme Folgen nach sich ziehen“, sagt sie, „Menschen verlieren ihre Jobs, es gibt psychische Folgen, das ganze Leben kann sich dadurch verändern.“ Unternehmen müssten zu einer robusten Sicherheit verpflichtet werden und dazu, Maßnahmen zu implementieren, die Missbrauch einerseits technisch verhindern und andererseits die Täter:innen systematisch blockieren. Auch hier soll der Orbit-Leitfaden Anregungen für politische Entscheidungsträger:innen liefern. Für eine gerechte digitale Zukunft.

Mehr erfahren

Erfahren Sie mehr über unser Förderprogramm „Reducing Inequalities Through Intersec­tional Practice“

Der Orbit-Leitfaden steht auf der Website von Chayn zum Download zur Verfügung.

Zu den Feminist Tech Principles von Superrr gelangen Sie hier.

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