Zur COP27 hat die Africa Climate Mobility Initiative (ACMI) einen bahnbrechenden Bericht vorgelegt, in dem die durch den Klimawandel verursachten Migrationsbewegungen prognostiziert werden. Kamal Amakrane, ACMI-Direktor und ehemaliger UN-Peacekeeper, erklärt, wohin die meisten Menschen gehen werden – und warum Strategien zur Klimawandel-Anpassung Hotspot-zentriert sein müssen.
Kamal Amakrane: Vieles wussten oder ahnten wir bereits. Aber es war sehr aufschlussreich, diese Einschätzung durch eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung bestätigt zu sehen. Zum Beispiel werden sich 99 Prozent der Migrationsbewegungen, die in den kommenden Jahrzehnten durch den Klimawandel auf dem afrikanischen Kontinent ausgelöst werden, innerhalb der jeweiligen Länder abspielen. Das verbleibende ein Prozent der Menschen wird in Nachbarländer umziehen, wegen bestehender ethnischer, wirtschaftlicher, religiöser oder familiärer Bindungen.
Genau. Das zeigt uns, dass die von populistischen Politikern im Globalen Norden verbreiteten Darstellungen nicht nur in die Irre führen, sondern auch sachlich falsch ist. Wenn wir über Geflüchtete oder Asyl sprechen, denken wir zuerst an das „Recht auf Schutz“. Doch als wir im Rahmen unserer Feldforschung mit Menschen sprachen, die aufgrund von Klimawandelfolgen innerhalb Afrikas umziehen mussten, ging es vor allem um das „Recht zu bleiben“. Sie wollen ihr Land, ihre Traditionen, ihr Leben nicht aufgeben, sondern in ihrer Heimat ein gutes Leben führen. Für die meisten von ihnen bedeutet Erfolg, dort zurechtzukommen und sich anzupassen.
Klimaflüchtlinge. Klimamigration. Vertreibung. Umsiedelung – das sind alte Begriffe, die die betroffenen Menschen nicht als autonom Handelnde ernst nehmen. Unser Bericht ist eine Gelegenheit, das Narrativ und den Diskursverlauf neu zu gestalten. Es geht nicht um Europa oder darum, die Klimamigration zu steuern oder einzudämmen. Sondern darum, wie wir Bevölkerungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent positiv nutzen und die Eigenverantwortung der Menschen vor Ort stärken können. Es ist an ihnen zu entscheiden, ob sie bleiben, Hilfe in Anspruch nehmen oder fortziehen wollen.
Meine Haltung: Ein halb leeres Glas ist auch immer halb voll. Wir sollten uns also auf die aktuelle Situation konzentrieren und auf die Frage, wie wir sie verbessern können. Dies ist besonders wichtig, weil unsere Untersuchungen zeigen, dass die Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent sehr mobil sein wird. Im Jahr 2050 werden 13 bis 15 Prozent der gesamten afrikanischen Bevölkerung aufgrund des Klimawandels und anderer Faktoren wie wirtschaftlicher Not oder militärischen Konflikten ihre Heimat verlassen haben.
Im Dadaab-Komplex in Kenia leben mehr als 200.000 Geflüchtete und Asylbewerber, die meisten von ihnen aus Somalia. Hier wird ein Bus für die Fahrt nach Nairobi beladen.
Ich denke, wir können von der Europäischen Union eine Menge lernen. Die Menschen sind unser Kapital. Und Mobilität ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wir wollen zeigen, dass es sich lohnt, in Klimamobilität zu investieren, anstatt sie zu negieren oder gar abzuwehren. Die Frage ist nicht nur, wie wir uns an die Klimawandelfolgen anpassen können, sondern auch, wie die Menschen auf einem Kontinent, der massiv in Bewegung gerät, zukünftig zusammenarbeiten werden.
Nun, das gesamte multilaterale System, würde ich sagen – und alle Akteure, die ein Interesse an einem friedlichen, wohlhabenden und gesunden Afrika haben. Dafür brauchen wir einen neuen Ansatz für Regierungsführung, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. In den letzten Jahrzehnten ging es nur um Nationalstaaten. Aber diese Art von nationalstaatlichem Denken muss durch einen Hotspot-zentrierten Ansatz ersetzt werden.
Es handelt sich um einen wissenschaftlichen Durchbruch, den man gut mit der personalisierten Medizin vergleichen kann. Nicht jeder Patient bekommt das gleiche Medikament, stattdessen wird die Behandlung auf individuelle Bedürfnisse und Beschwerden zugeschnitten. Damit das funktioniert, benötigt man eine Menge Daten. Wir konnten die Klima-Hotspots auf dem Kontinent bis auf fünf Quadratkilometer genau identifizieren, und zwar in Fünf-Jahres- Intervallen bis 2050. Das Ergebnis ist eine Karte, auf der man sehen kann, wo die Menschen aufgrund bestimmter Klimastressfaktoren ihre Heimat verlassen müssen – und wohin sie sehr wahrscheinlich ziehen werden. Als ich dem Bürgermeister von Dakar unsere Daten zeigte, sagte er: „Oh nein, ich habe ein Infrastrukturprojekt in einem Gebiet, das stark betroffen sein wird.“ Aber das ist der Ansatz, den wir umsetzen wollen: Wenn man Schulen für die nächsten 50 Jahre baut, sollte man sie dort bauen, wo sie auch gebraucht werden.
Migration aufgrund des Klimawandels wirkt sich auf alle Länder des afrikanischen Kontinents aus, aber einige Regionen werden stärker betroffen sein als andere – abhängig auch von dem jeweils zu erwartenden Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum. Ein Fischerdorf an der senegalesischen Atlantikküste, das vom steigenden Meeresspiegel betroffen ist, braucht eine andere Form der Unterstützung als eine senegalesische Hirtengemeinde nahe der Grenze zu Mali, die von Wassermangel bedroht ist. Man kann nicht beiden Communitys mit demselben Patentrezept oder einer nationalen Großstrategie helfen. Mit unserer Initiative wollen wir Lösungen fördern, die sich an den Gegebenheiten vor Ort orientieren und von der lokalen Bevölkerung mitentwickelt werden. Auf diese Weise werden sich die Investitionen viel eher auszahlen und auch nachhaltiger sein, weil wir auch die Handlungsfähigkeit und das Wissen der Gemeinden stärken. Wir nennen diese Ökosysteme „Communities of Practice“.
Dieser Fischer musste in seinem Heimatland Mali wegen austrocknender Seen mehrmals umziehen – schließlich überquerte er die Grenze nach Mauretanien und ließ sich mit seiner Familie in der Nähe des Mahmouda-Sees nieder.
Es geht um mehrere Schritte: Zunächst muss die Bevölkerung die Bedeutung des Klimawandels verstehen. Das Dorf in der Nähe von Dakar ist vom steigenden Meeresspiegel und der Erwärmung der Ozeane betroffen. Die Fischer merken, dass es weniger Fische gibt als früher, und schieben das wahrscheinlich auf europäische oder chinesische Hochseeflotten. Aber wenn man ihnen zeigt, dass steigende Wassertemperaturen und sinkender Salzgehalt das Ökosystem verändern, und dass sie nicht alle für immer ihren Lebensunterhalt mit Fischfang verdienen können, entsteht Raum für neue Zukunftsvisionen – hoffentlich, bevor ihre Lebensgrundlage komplett verloren geht. Wir wollen ihnen konkrete Informationen über die Risiken des Klimawandels geben, damit sie selbst entscheiden, wie sie sich verändern oder anpassen wollen. Dann müssen wir gemeinsam mit der Community, der Verwaltung, der Privatwirtschaft und anderen Partnern alternative Erwerbsformen entwickeln – im besten Fall erlernen die Menschen dort „grüne Skills“ für eine natur-positive Transformation, wie wir es nennen.
Denn auch die Gesellschaft um sie herum verändert sich, ehemalige Viehzüchter siedeln aus dem trockenen Landesinneren an die Küste um. Wir geben den Menschen vor Ort Informationen darüber, welche Gegenden betroffen sind, welche Pilotprojekte möglich sind, und helfen ihnen, sich weiterzuentwickeln. Und dann skalieren wir diese Erkenntnisse auf ähnliche Hotspots in ganz Afrika.
Von der Tech-Branche habe ich mir etwa den dort verbreiteten Ehrgeiz und die strategische Flexibilität abgeschaut. Ich möchte mich auf Dinge konzentrieren, die machbar sind – und gleichzeitig neue Impulse setzen. Persönlich habe ich zwei wichtige Einflüsse in meinem Berufsleben. Als ausgebildeter Architekt ist es für mich selbstverständlich, meinen Kunden und der lokalen Community zuzuhören. Und als Peacekeeper habe ich gelernt, dass es vor allem auf Kompromisse ankommt – und darauf, dass die Menschen mit dem erzielten Ergebnis auch ihren Frieden machen.
„Mit der ACMI wollen wir Projekte weniger selbst ausführen oder das System neu erfinden, sondern einen neuen Weg weisen, der von den Menschen vor Ort und wissenschaftlichen Fakten vorgegeben wird.“
Aktuell kooperiert die internationale Gemeinschaft nicht in dem Maße, das nötig wäre, um eine Anpassung an den Klimawandel umzusetzen. Wir reden über Milliarden von Dollar an Fördergeldern für entsprechende Projekte, aber das Kapital fließt gar nicht. Mit der ACMI sind wir der Zeit voraus – und sorgen für mehr Handlungsfähigkeit und Eigenverantwortung. Dabei wollen wir Projekte weniger selbst ausführen oder das System neu erfinden, sondern einen neuen Weg weisen, der von den Menschen vor Ort und wissenschaftlichen Fakten vorgegeben wird. Wie können wir unseren Erfolg messen? Nun, wir wurden gerade von den lateinamerikanischen und karibischen Staaten gebeten, für ihre Regionen ähnliche Initiativen umzusetzen. Die Liga der Arabischen Staaten bat uns ebenfalls darum, genauso wie die pazifischen Inselnationen. Wir haben auch Anfragen von einzelnen Ländern erhalten, die Blaupausen für einen Hotspot-zentrierten Ansatz wünschen. Und das Gleiche machen wir für große Städte. Wenn so viele Menschen an unserer Methode Interesse zeigen, dann machen wir wohl einiges richtig.
Ich glaube daran, dass wir keine passiven Subjekte sind, denen etwas zustößt, sondern dass wir unsere Zukunft aktiv gestalten können. Man muss Pläne schmieden, aber auch wissen, dass diese nie zu hundert Prozent funktionieren werden. Man braucht große Ambitionen – und muss gleichzeitig seine Grenzen kennen. Es bringt nichts, sich selbst Vorwürfe zu machen. Das Motto: Bleib wendig und anpassungsfähig.
Der Bericht „African Shifts“ war ein mehrjähriges Projekt und wurde von der Robert Bosch Stiftung unterstützt. Auf der Grundlage neuester Klimaforschung identifizierte die Studie bestehende Hotspots auf dem afrikanischen Kontinent und führte umfangreiche Feldforschung in der Region durch. Durch die Kombination von qualitativen Erkenntnissen mit quantitativen Modellen wurden vier verschiedene Szenarien auf der Grundlage von Wachstum, Politik und Emissionsentwicklungen projiziert – und was die Auswirkungen des Klimawandels für die Bevölkerungsverteilung in diesen möglichen Zukunftsszenarien bedeuten werden. Im Rahmen von 50 Workshops mit 200 Partnerorganisationen und fast 3.000 teilnehmenden Expert:innen, Wissenschaftler:innen, betroffenen Gemeinden und politischen Entscheidungsträger:innen entwickelten die Forscher:innen Pläne für verschiedene lokale Bedürfnisse in unterschiedlichen Szenarien, z. B. für Städte in Küstengebieten oder Hirtengemeinschaften.