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Wie die Ukraine den Krieg und seine Folgen überwindet

Der russische Angriffskrieg belastet das Leben in der Ukraine auf vielen Ebenen. Das wollen Menschen wie Natalia nicht hinnehmen: Unter dem Dach einer „Community of Practice“ koordinieren sie sich, um der Bevölkerung bei der Bewältigung ihrer Traumata zu helfen und die Gesellschaft auf die Zeit nach dem Krieg vorzubereiten. Wir unterstützen die wichtige Initiative mit einer Anschubfinanzierung.

Text
Dr. Tim Tolsdorff
Bilder
AdobeStock/alonaphoto; privat
Datum
31. Juli 2023

Die Schrecken des Krieges haben auch Natalia Bezkhlibna erfasst: Vor der Bedrohung durch russische Raketen, Drohnen und Bomben floh sie im vergangenen Jahr aus der Hauptstadt Kyiv. Zurück ließ die erfolgreiche Juristin und Mediatorin Teile ihrer Familie, viele Freunde und ein erfüllendes Berufsleben. Derzeit pendelt sie mit ihren Kindern zwischen Estland und ihrer Heimat – und steht vor der Herausforderung, in einem fremden Land zurecht zu kommen. Damit nicht genug: Hinzu kommt das nagende Gefühl, dem eigenen Land und den Menschen vor Ort etwas zu schulden – ein Trauma, von dem auch andere Menschen berichten, die sich vor den Schrecken des Kriegs in Sicherheit gebracht haben.

Doch Natalia hat sich gemeinsam mit anderen Ukrainer:innen entschieden, ihrem Trauma mit Aktivität entgegenzutreten: Seit einigen Monaten leitet sie das Generalsekretariat der „Community of Practice of Mediators and Dialogue Facilitator“ (CoP), eines Netzwerks von ukrainischen Nichtregierungsorganisationen und Fachleuten für Konfliktbearbeitung. Ihr Ziel lautet, den Ukrainer:innen dabei zu helfen, mit den Wunden umzugehen, die der Krieg an Leib und Seele schlägt. „Als loses Netzwerk gibt es die Community bereits seit 2014. Damals begann Russland den Krieg mit der Annexion der Krim und des Donbass“, sagt Natalia. Die Mitglieder sind zum Beispiel Veteranenverbände, Menschenrechtsorganisationen, kirchliche Akteure, Interessengruppen von Geflüchteten und Initiativen, die seit 2014 den Dialog über die Konfliktlinien im Osten der Ukraine aufrechterhalten.

Natalia Bezkhlibna posiert vor einem Tagungs-Poster
Natalia Bezkhlibna auf einer Community-Tagung

Karriere und Konfliktlöserin

Die Erkenntnis, dass der vom Krieg bis an die Grenzen geforderte ukrainische Staat zivilgesellschaftliche Unterstützung braucht, führte innerhalb der CoP zum Bewusstsein, dass man die eigenen Anstrengungen erhöhen muss. Menschen mit starken Fähigkeiten als Netzwerker:innen und Macher:innen wie Natalia sind dabei essenziell. Die Juristin blickt auf eine erfolgreiche Karriere in Kyiv bei internationalen Unternehmen zurück. „Schon im Studium habe ich mich auch für politische Konflikte, für deren Ursachen, Folgen und mögliche Lösungen interessiert und im Nebenfach Konfliktstudien belegt“, sagt sie. Neben dem Job bildete sich Natalia dann zur Mediatorin weiter, vernetzte sich systematisch. Nun wendet sie ihre Fähigkeiten in diesem Bereich vor allem im Kontext des Krieges an.

Im Generalsekretariat, dessen Aufbau und Betrieb die Robert Bosch Stiftung mit einer Anschubfinanzierung fördert, wird Natalia von mehreren hauptamtlichen und beratenden Kräften unterstützt. So organisiert zum Beispiel Tatiana Grinuova, die nahe der südukrainischen Stadt Cherson geboren wurde und seit 2000 in Kyiv lebt, die Kommunikation der CoP nach außen.

„Es geht jetzt darum, nach der Frage des schieren Überlebens den Fokus auf nachhaltigere Formen des Helfens zu lenken.“

Zitat vonNatalia Bezkhlibna
Zitat vonNatalia Bezkhlibna

Das Hauptziel ist sozialer Zusammenhalt

In die Öffentlichkeit trat die CoP erstmals im Mai 2022, als man gemeinsam mit 27 weiteren NGOs ein strategisches, sieben Punkte umfassendes Positionspapier zum Krieg in der Ukraine  veröffentlichte. Im Frühjahr 2023 initiierte man unter dem Titel „Ukraine Peace Appeal“  einen Aufruf an die internationale Friedensszene, der das Recht der Ukrainer:innen auf einen souveränen Staat und dessen Selbstverteidigung unterstrich. Außerdem setzte das Papier den internationalen Diskursen eine lokale Perspektive entgegen – und zeigte Gefahren auf, die voreilige Konzessionen an Russland im Rahmen von Friedensverhandlungen hätten. Mit diesen Veröffentlichungen etablierte sich die CoP als Kommunikator gegenüber falsch verstandenem Pazifismus. „Derzeit beschäftigen wir uns vor allem damit, die Arbeit des Netzwerks zu verstetigen und zu professionalisieren“, sagt Natalia. „Meine Aufgabe besteht darin, Strukturen und Prozesse zu etablieren, mit denen wir unsere strategischen Ziele erreichen können.“

Diese Ziele sind ambitioniert: So will die CoP vor allem dabei helfen, die psychischen Wunden zu schließen, die der Krieg in der Ukraine reißt. Es ist eine Aufgabe, die in vielen Nachkriegsgesellschaften vernachlässigt wird und zu Konflikten führt. Seit der russischen Invasion im Februar 2022 haben sich die Herausforderungen im Land vervielfacht: Kriegsverbrechen der russischen Invasionstruppen – zum Beispiel Vergewaltigungen, Erschießungen oder die Verschleppung von Kindern – traumatisieren Teile der Zivilbevölkerung; Soldat:innen kehren versehrt an Geist und Körper von der Front zurück; der Beschuss von Städten im ganzen Land mit Drohnen und Raketen trifft alle Mitglieder der Gesellschaft; Flucht und Vertreibung reißen Familien und Gemeinden auseinander. Vor allem Letzteres, so Natalia, fragmentiere die Gesellschaft und gefährde den sozialen Zusammenhalt in weiten Teilen der Ukraine.

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Mobile Teams lösen Konflikte vor Ort

Im Fokus der CoP steht deshalb seit Februar 2022 der Ansatz, Geflüchtete und Heimatvertriebene innerhalb der Ukraine psychologisch aufzufangen und sie in den Dialog mit der ansässigen Bevölkerung zu bringen. „So möchten wir die Widerstandskräfte der Gemeinschaften vor Ort stärken und sie auf die Aufgabe vorbereiten, das Land nach dem Ende des Kriegs wieder aufzubauen“, erklärt Natalia. Zu diesem Zweck baute die CoP bislang zehn Teams auf, die stets aus Mediator:innen, Psycholog:innen und regional verwurzelten Personen bestehen. „Uns war es wichtig, dass wir lokale Akteur:innen und Gemeinschaften einbinden“, sagt Natalia. Dies sei eine Grundvoraussetzung, um Zugang zu den Menschen vor Ort zu erhalten und Konflikte auch proaktiv erkennen zu können.

„Nun arbeiten wir daran, diesen Ansatz zu skalieren und flächendeckend zu helfen“, sagt Natalia. Die erfolgreiche Arbeit der Teams habe gezeigt, dass das Konzept funktioniert. „Wir wollen dieses Engagement nun, da das Netzwerk über einen besseren organisatorischen Aufbau verfügt, ausweiten. Es geht jetzt darum, nach der Frage des schieren Überlebens den Fokus auf nachhaltigere Formen des Helfens zu lenken.“ Dazu will man auch das Wissen und die Erfahrungen der bestehenden Teams sammeln und allen Mitgliedern des Netzwerks zugänglich machen. Zudem arbeite man an Mediationsangeboten für traumatisierte Soldat:innen sowie für Schüler:innen.

„Ich möchte unserem Land dabei helfen, all die Grausamkeiten dieses Krieges zu überwinden und zu einem Ort sozialer Stabilität zu werden.“

Zitat vonNatalia Bezkhlibna

Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit

Natalia und ihre Kolleg:innen sind hochmotiviert und arbeiten nach professionellen Standards. Quer durch Europa vernetzen sie sich digital, kooperieren oft dezentral. Doch lässt Natalia keinen Zweifel daran, dass sie lieber in der Heimat wäre. Sie möchte dabei helfen, die Ukraine wieder zu einem lebenswerten Ort zu machen und das noch junge demokratische Gemeinwesen zu bewahren – die Ukraine soll zu einer Heimat für die Zukunft werden. „Ich möchte unserem Land dabei helfen, all die Grausamkeiten dieses Krieges zu überwinden und zu einem Ort sozialer Stabilität zu werden“, sagt sie. Dieser Prozess müsse bereits vor einem möglichen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen beginnen. „Sonst ist es zu spät.“

Mit Blick auf die Nachkriegsgesellschaft in der Ukraine engagiert sich die CoP auch beim Thema „Transitional Justice“,  also der Aufarbeitung von Vergangenheit. Dabei geht es darum, Instrumente wie Wahrheitskommissionen, Wiedergutmachungsprogramme, Amnestiegesetze und weitere einzusetzen, um Konflikte in der Gesellschaft zu lösen. „Diese Thema ist für uns außerordentlich wichtig“, sagt Natalia. „Denken Sie etwa an Lehrer:innen in den von Russland okkupierten Gebieten, die nun ein neues Curriculum vermitteln sollen. Ist das eine Form der Kollaboration, die man notgedrungen akzeptieren muss?“ Um das beurteilen zu können, brauche die Ukraine Regeln und Prinzipien. Dieser Prozess aber werde meist von Jurist:innen bestimmt, obwohl es um die ganze Gesellschaft gehe. „Deshalb möchten wir uns hier beteiligten, um auch die Perspektive unseres Netzwerks einzubringen, also die der Mediation und des Dialogs“, so Natalia.

Für die Ukraine wäre dies ein großer Schritt, um nach dem Ende des russischen Angriffskrieges als Gesellschaft Frieden zu finden und die Traumata der jüngeren Vergangenheit zu überwinden. Das gilt auch für Natalia Bezkhlibna. Denn sie ist eine von vielen Ukrainer:innen, die vor allem eines zurückhaben wollen: ihr altes Leben.

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