Projektpartnerinnen berichten

Wie der Krieg die Rolle von Frauen in der Ukraine verändert

Viele unserer Partnerorganisationen in der Ukraine werden von Frauen geleitet. Drei von ihnen haben wir gefragt, was der Krieg mit den Frauen im Land macht, die inzwischen Vieles schultern – auch das, was zuvor als Männersache galt. Hier sind drei persönliche Berichte: über die Dominanz patriarchaler Strukturen und über neue, starke Rollen, die die Frauen nicht mehr aufgeben werden.

Protokolle
Julia Teek und Regina Mennig
Illustrationen
Tetiana Yakunova
Datum
01. Dezember 2025

„Wir leben im Krieg und jeder Tag könnte der letzte sein – da hat man keine Zeit, seine Talente zu verstecken“

Yuliya Sporysh ist Gründerin und Leiterin der NGO „Girls“. Die ukrainische Organisation begann einst mit Projekten zur sexuellen Bildung von Mädchen und Frauen. Inzwischen bietet sie auch psychologische Unterstützung an, macht Weiterbildungsprogramme für Frauen, und versteht sich als wichtige feministische Stimme im Land. Yuliya Sporysh berichtet, wie hartnäckig sich patriarchale Muster in der ukrainischen Gesellschaft halten – und in welch krassem Widerspruch sie stehen zur Lebensrealität im Krieg.

„Wir Frauen in der Ukraine stehen vor vielen Herausforderungen gleichzeitig. Oft haben wir unsere Partner nicht bei uns. Wir müssen Geld verdienen, uns um die Kinder kümmern und ältere Familienangehörige versorgen. Außerdem gehören Probleme wie dauernde Stromausfälle zu unserem Alltag. Jede Nacht versucht Russland, uns zu töten. Wir versuchen, irgendwie zu überleben.

Yuliya Sporysh, Leiterin der NGO Girls in der Ukraine
Yuliya Sporysh, Gründerin und Leiterin der ukrainischen Organisation NGO „Girls“

Die Ansichten, wie Frauen zu sein haben, wie sie sich verhalten sollten – die ganzen Stereotype – bestehen in der Ukraine nach wie vor. Da hat sich seit Kriegsbeginn wenig verändert. Was sich verändert hat, ist, dass Frauen in diesem Land inzwischen niemand mehr ignorieren kann. Egal, was es zu erledigen gilt: Man braucht Frauen, weil es sonst schlicht niemand macht.

Dennoch würde die Gesellschaft in vielen Positionen weiterhin lieber Männer sehen. Mit einem Projekt unserer NGO ‚Girls‘ wollen wir Frauen umschulen und sie für die Beseitigung von Landminen ausbilden – eine Aufgabe, die in der Ukraine sehr wichtig geworden ist. Als wir die zuständige staatliche Behörde ansprachen, sagte uns ein hochrangiger General: ‚Gehen Sie besser zum Ministerium für Sozialpolitik und fordern Sie Maßnahmen, um Frauen zum Kinderkriegen zu ermutigen. Wir brauchen keine Frauen in den Streitkräften; wir brauchen neue Ukrainer.‘ Viele Leute glauben immer noch, dass man Frauen vor allem dazu bringen sollte, Mutter zu werden.

„Es ist nicht so, dass wir in Sachen Gleichstellung der Geschlechter super progressiv geworden sind. Ich wünschte, ich könnte das sagen, aber so ist es nicht. Was ich jedoch sagen kann, ist: Frauen machen ihre Sache großartig.“

Zitat vonYuliya Sporysh von der ukrainischen Organisation NGO „Girls“
Zitat vonYuliya Sporysh von der ukrainischen Organisation NGO „Girls“

Inzwischen haben wir in der Ukraine 70.000 Frauen an der Front – weil es sonst niemanden mehr gibt. Frauen sind auch in allen möglichen Führungspositionen – weil es sonst niemanden mehr gibt. Es ist also nicht so, dass wir in Sachen Gleichstellung der Geschlechter super progressiv geworden sind. Ich wünschte, ich könnte das sagen, aber so ist es nicht. Was ich jedoch sagen kann, ist: Frauen machen ihre Sache großartig.

Eine Folge der gegenwärtigen Situation ist: Frauen erkennen endlich, dass sie alles können, was Männer können – oft sogar besser. Wenn früher eine Führungsposition frei war, bewarben sich Frauen lieber nicht, weil sie dachten, sie seien nicht fähig genug. Jetzt werden die Frauen mutiger, weil sie wissen: Sie können den Job sehr wohl.

Als ich 18 war, hatte ich einen Freund, der mir einen Heiratsantrag machte. Ich lehnte ab. Ich wollte keine Ehefrau sein – ich wollte einfach nur studieren und einen Beruf haben. Meine Beobachtung war immer, dass Frauen in der Ukraine viel mehr leisten als Männer, ohne dafür irgendeine Art von Respekt zu bekommen. Alle glamourösen Rollen mit Macht waren Männern vorbehalten. Und ich fragte mich: Warum sollten Frauen immer an zweiter Stelle stehen?

Durch unsere Projekte bei NGO Girls sehen wir, dass Frauen aktiver werden und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Sie sind unglaublich stark. Wenn man im Krieg lebt und jeder Tag der letzte sein könnte, kann man es sich nicht leisten, seine Talente zu verstecken. Man kann nicht warten – man muss handeln.“

„Manche Frauen entwickeln Fähigkeiten, die sie sich nie hätten vorstellen können“

Tetiana Kalenychenko

Tetiana Kalenychenko ist Mitgründerin unserer ukrainischen Partnerorganisation Dialogue in Action, die im ganzen Land Projekte für gesellschaftlichen Zusammenhalt anstößt. Der Krieg bürde den Frauen in der Ukraine enorme Last auf, berichtet Tetiana – gleichzeitig sei er für viele der Auslöser, eine stärkere Position in der Gesellschaft zu finden. Und davon werden die Frauen nicht wieder zurücktreten, ist sich Tetiana sicher.

„Mein Mann schon seit 2015 Veteran, daher habe ich bereits vor der russischen Invasion 2022 gelernt, mein eigenes Geld zu verdienen, den Haushalt zu führen und unsere Kinder zu versorgen, während er in Reha war.

Eine solche Situation betrifft inzwischen Frauen überall in der Ukraine: Sämtliche Bereiche des Lebens müssen sie alleine stemmen, von Kindererziehung und Haushalt über die Führung kleiner Familienbetriebe bis hin zu allen technischen und logistischen Herausforderungen des Alltags. Gleichzeitig sollen sie den Kontakt zu ihren Partnern an der Front halten – allein das erfordert emotionale Stärke und Zeit. 

Diese vielschichtige Belastung fordert einen enormen Tribut. Viele Frauen leiden unter Angst- und Schlafstörungen und depressiven Symptomen. Es besteht großer Bedarf an psychosozialer Unterstützung und es braucht politische Maßnahmen, um die Last von Frauen im Krieg anzuerkennen und Hilfsangebote zu schaffen.

Illustration mit dem Kopf einer Frau, der in viele verschiedene Kästchen aufgeteilt ist

Zugleich sehen sich nun viele Frauen, die zuvor keine berufliche Entwicklung angestrebt hatten, gezwungen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder neue Beschäftigungsformen zu suchen. Auch wenn dieser Schritt oft aus der Not heraus geboren ist, eröffnet er teils unerwartete Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung, Selbstverwirklichung und finanziellen Unabhängigkeit. Für manche Frauen wurde der Krieg zum Auslöser, ihre berufliche Rolle neu zu denken und Fähigkeiten zu entwickeln, die sie sich nie hätten vorstellen können.

„Frauen müssen nicht mehr beweisen, dass sie Führungspositionen einnehmen oder in traditionell männlich geprägten Berufsfeldern arbeiten können – sie tun es längst.“

Zitat vonTetiana Kalenychenko, Leiterin der NGO „Dialogue in Action“
Zitat vonTetiana Kalenychenko, Leiterin der NGO „Dialogue in Action“

Die Präsenz von Frauen im öffentlichen Bereich hat sich zahlenmäßig nicht wesentlich verändert, doch qualitativ sind klare Veränderungen erkennbar. Frauen müssen nicht mehr beweisen, dass sie Führungspositionen einnehmen oder in traditionell männlich geprägten Berufsfeldern arbeiten können – sie tun es längst. Es steht außer Frage, dass ukrainische Frauen bereit sind, sich Herausforderungen in allen Bereichen zu stellen, einschließlich des Militärdienstes. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Tatsache, dass derzeit über 60.000 Frauen in den Streitkräften dienen.

Dennoch sind sie weiterhin mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert, sich ‚angemessen weiblich‘ zu verhalten, und es gibt viel Druck rund um das Thema Mutterschaft – eine besondere Herausforderung in Kriegszeiten.

Ein Bereich, in dem Frauen weiterhin aktiv für Gleichstellung und Einfluss kämpfen müssen, ist die Politik. Ich bin überzeugt, dass dort ein grundlegender Wandel nötig ist – hin zu einer neuen Dimension, die demokratischen Prinzipien entspricht und in der weibliche Stimmen dauerhaft präsent sind, nicht nur über Quoten. Insgesamt kann ich mir nicht vorstellen, dass Frauen in ihre früheren Rollen zurückkehren werden – sie haben sich zu sehr verändert, um einen Schritt zurück zu machen.“

„Frauen sind zum Rückgrat der ukrainischen Gesellschaft geworden“

Die Ukrainerin Sasha Dovzhyk bei einer Buchvorstellung auf der Bühne

Sasha Dovzhyk leitet die ukrainische Organisation INDEX, die Künstler:innen und Intellektuelle fördert und sie miteinander vernetzt: jene, die im Land geblieben sind, aber auch die, die vor dem Krieg ins Ausland flohen. So will INDEX einen Beitrag leisten, die kulturelle Identität der Ukrainer:innen zu stärken. Sasha sieht in den Frauen in der Armee ein Symbol dafür, wie sehr der Krieg die Rolle der Frauen verändert.

„Die internationale Advocacy-Arbeit für die Ukraine wird heute vor allem von Frauen geprägt. Das geschieht teils aus Notwendigkeit, da Männer im wehrpflichtigen Alter das Land nicht verlassen dürfen, aber auch, weil Frauen diese Plattform mit bemerkenswerter Wirksamkeit ergriffen haben. Die Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk etwa verkörpert diesen Wandel und nimmt ihren Platz auf der Weltbühne ein – Seite an Seite mit politischen Führungspersönlichkeiten und Vordenker:innen, um für Gerechtigkeit und Rechenschaft einzutreten.

Auch innerhalb der Ukraine fällt mir auf, dass Frauen zum Rückgrat der gesellschaftlichen Resilienz geworden sind. Während der gemeinsamen Dokumentationsreisen von INDEX und PEN Ukraine in die Frontregionen habe ich immer wieder erlebt, wie Frauen in kleinen Städten und Dörfern aus schierer Notwendigkeit zu Organisatorinnen ihrer Gemeinschaften wurden.

Illustration mit drei Frauen, die auf einem Podium vor Mikrofonen stehen

Lokale Bibliothekarinnen etwa haben ihre traditionellen Rollen weit hinter sich gelassen. Sie organisieren heute Gemeindezentren, in denen Veteranen, Binnenvertriebene, Familien, die Angehörige an der Front verloren haben, und freigelassene Kriegsgefangene Unterstützung finden, ihre Identität neu aufbauen und wieder Anschluss an ihre Gemeinschaften gewinnen.

Ich kann nicht umhin, auch an die Frauen zu denken, die uns an der Front verteidigen. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums dienen derzeit 70.000 Frauen in den Streitkräften der Ukraine – rund 15 Prozent der Gesamttruppen –, davon 5.500 in direkten Kampfeinsätzen. Diese Zahlen markieren einen dramatischen Wandel gegenüber der Vorkriegsstruktur des Militärs und stellen lang gehegte Annahmen über die Fähigkeiten von Frauen im Krieg infrage.

„Der Krieg befähigt Frauen, traditionelle Grenzen zu überwinden, zugleich macht er Geschlechterkategorien angesichts des existenziellen Kampfes bedeutungslos.“

Zitat vonSasha Dovzhyk, Leiterin der ukrainischen Organisation „INDEX“
Zitat vonSasha Dovzhyk, Leiterin der ukrainischen Organisation „INDEX“

Meine Freundin Kateryna Zarembo steht für diese tiefgreifende Neuausrichtung gesellschaftlicher Prioritäten angesichts der Bedrohung des Landes, ausgelöscht zu werden. Als Autorin, Forscherin und Mutter von vier kleinen Kindern meldete sie sich zunächst für ein Jahr als Kampf-Sanitäterin bei einem Freiwilligenbataillon, bevor sie in diesem Sommer zur regulären Armee stieß. Als Frau und Mutter war sie rechtlich nicht verpflichtet zu dienen, doch sie traf diese Entscheidung im Bewusstsein, dass es nichts Wichtigeres gibt, was sie für ihr Land und ihre Kinder tun könnte, als heute das Leben ukrainischer Verteidiger zu retten. Dies spiegelt sich in ihrem jüngsten Essay ‚Wenn Worte deine Kultur nicht schützen, wird es die Armee tun‘ wider.

Auf die Frage nach ihren geschlechtsspezifischen Erfahrungen im Militär berichten viele ukrainische Soldatinnen, dass das Geschlecht im Angesicht von Kampf, täglichen Verlusten und dem Überlebenskampf in den Hintergrund tritt. Ich möchte dazu ein Gedicht von Eva Tur zitieren, die seit 2014 im Militär dient – mit einer kurzen Unterbrechung, um ihre Tochter zur Welt zu bringen:

Ich weiß, wie man eine Frau ist in relativ friedlichen Zeiten,
wie man Make-up aufträgt und Schmuck trägt,
wie man elegante Kleider und Businesskostüme trägt,
wie man High Heels und leichte Ballerinas trägt,
wie man eine Frisur und ein neues Parfum auswählt...
aber ich versichere dir: Ich habe keine Ahnung,
wie man eine Frau im Krieg ist,
ebenso wenig wie ich weiß, wie man Verlust überlebt,
denn jeder Verlust wird mich überdauern –
ein geschlechtsloses Wesen im Krieg.

Eva Turs Worte offenbaren eine tiefe Wahrheit: Der Krieg befähigt Frauen, traditionelle Grenzen zu überwinden, zugleich macht er Geschlechterkategorien angesichts des existenziellen Kampfes bedeutungslos.“

Eine Frau hält eine Ukraine-Flagge gegen ein Fenster
Unsere Förderung

Die Ukraine stärken heißt auch, die Frauen im Land zu stärken

Unser Ukraine-Engagement

Unser Sonderbereich Ukraine fördert vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen im Land selbst. Denn die Menschen in der Ukraine kennen ihre Bedarfe am besten und können Lösungsansätze selbstbestimmt entwickeln. Ein besonderes Augenmerk legen wir in unserer Förderung unter anderem auf Organisationen, die von Frauen geführt werden und sich für die Belange von Frauen einsetzen. Denn längst ist klar, dass Frauen in der Ukraine erfolgreich Verantwortung in allen gesellschaftlichen Bereichen übernehmen, ihr Engagement und ihre Kraft aber häufig keine entsprechende Anerkennung erhalten.

Unser Ukraine-Engagement