Experteninterview

Widerstandsfähigkeit der Demokratie: „Wer den Worst Case verhindern will, muss ihn kennen“

Max Steinbeis, Gründer des Forums Verfassungsblog, erklärt, warum selbst robuste demokratische Institutionen anfällig für autoritäre Strategien sind, was Deutschland aus den USA und Ungarn lernen kann und warum Szenarien helfen, sich auf mögliche Angriffe vorzubereiten. 

Interview
Tobias Moorstedt
Fotos
Marcus Schreiber, picture alliance/AP Photo; Jakob Schröter, picture alliance/dpa
Datum
24. September 2025

Man kann im Herbst 2025 nicht über die Frage von Resilienz in Demokratien sprechen, ohne über den Atlantik zu schauen: Wie verfolgen Sie die jüngsten Ereignisse in USA – etwa um Einschränkungen der Meinungsfreiheit von TV-Comedians wie Jimmy Kimmel oder die Deportationen von Menschen mit Aufenthaltstiteln? 

Max Steinbeis: Die USA sind das Land mit der ältesten und vermeintlich robustesten demokratischen Verfassung der Welt. Und wir sehen gerade, dass selbst so ein Land in sehr kurzer Zeit in den Autoritarismus kippen kann. Wir lernen: Institutionen, von denen wir dachten, sie böten einen verlässlichen Schutz, gewähren deutlich weniger Sicherheit als erwartet. Es ist inzwischen eine offene Frage, ob man in den USA künftig noch von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sprechen kann. Das muss man erst einmal auf sich wirken lassen.

Im Fokus

Max Steinbeis, Gründer des Verfassungsblog

Max Steinbeis ist Jurist, arbeitet als Journalist im Bereich Politik und Justiz und gründete 2009 den Verfassungsblog, den wir von der Robert Bosch Stiftung fördern. Der Verfassungsblog ist ein globales Forum, das Wissen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit frei und offen zugänglich macht – auf dem Blog, in Büchern oder auch mit Forschungsprojekten wie dem Thüringen-Projekt im Vorfeld der Landtagswahlen 2024. Dabei wurde untersucht, wie eine autoritär-populistische Partei in der Landesregierung die Demokratie aushöhlen könnte.

Das führt zu der fast existenziellen Frage: Gibt es überhaupt eine Verfassung, wenn sich eine Regierung nicht an sie hält?

Steinbeis: Ohne falsche Analogien ziehen zu wollen: Wir kennen das aus unserer eigenen Geschichte. Die Verfassung der Weimarer Republik war durchaus robust, in vieler Hinsicht sogar vorbildlich – und sie galt formell bis zum Jahr 1945. Das ist das Dilemma: Das Recht kann den Respekt vor dem Recht nicht mit rechtlichen Mitteln erzwingen. Und das gilt eben auch für Verfassungen. 

Gerade weil das Rechtssystem der BRD in Teilen auf dem US-amerikanischen Vorbild aufbaut, sind die Ereignisse dort für uns relevant. Wir dürfen uns nicht damit trösten, dass das alles ganz weit weg ist. Sondern wir müssen verstehen, dass auch in Deutschland die Demokratie verwundbar ist – und uns besser darauf vorbereiten, was auf uns zukommt.  

Worauf ist jetzt zu achten?

Steinbeis: Es gibt ein klares Muster: Autoritär-populistischen Regierungen nehmen zunächst die Justiz, den Beamtenapparat, die Medien und die Institutionen von Wissenschaft und Kultur ins Visier. Sie werden dann delegitimiert und funktionsunfähig gemacht, um sie unter dem Vorwand, man müsse sie „reformieren“, so umzubauen, dass es den eigenen Interessen dient und sie als Kontrollinstanz neutralisiert. Das Perfide: Institutionen, die uns vor Tyrannei schützen sollen, werden zum Werkzeug der Tyrannei. 

Gleichzeitig gibt es auch sehr USA-spezifische Entwicklungen, weil konservative Kreise seit Jahrzehnten daran arbeiten, den Supreme Court strategisch umzubesetzen. Und die konservativ-rechte Mehrheit des Gerichts gibt nun der Trump-Regierung extrem viele Freiheiten. Manche Entscheidungen der letzten Monate lassen kaum einen anderen Schluss zu, als dass die Richtermehrheit entschlossen ist, der Regierung verfassungswidriges Handeln zu ermöglichen.

„Gegen eine Regierung, die so entschlossen zum Machtmissbrauch bereit ist wie die amerikanische, gegen die wären auch die deutschen Institutionen nicht sicher.“

Zitat vonMax Steinbeis
Zitat vonMax Steinbeis

Wie beurteilen Sie denn die Lage in Deutschland aktuell?

Steinbeis: Das ist natürlich eine große Frage und pauschal schwer zu beantworten. Ich finde schon, dass das Bundesverfassungsgericht besser gewappnet ist gegen politische Einflussnahme – zumal im vergangenen Jahr unsere Verfassung so geändert wurde, dass die Zusammensetzung des Gerichts nicht mehr mit einfacher Mehrheit im Bundestag manipuliert werden kann. Am Ende hängt alles davon ab, dass die Regierung die Macht, die ihr rechtmäßig zur Verfügung steht, nicht missbraucht, um ein autoritäres Regime zu errichten. Vor einer Regierung, die so entschlossen zum Machtmissbrauch bereit ist, wie die amerikanische, wären auch die deutschen Institutionen nicht sicher.

Was tun, wenn Änderungen der Gesetze oder Verfassungen keinen absoluten Schutz bieten?

Steinbeis: Man kann ihn punktuell verbessern, so wie es beim Bundesverfassungsgericht ja schon geschehen ist. Aber man darf sich nicht in der Illusion wiegen, dass dieser Schutz jemals lückenlos sein könnte. Wir müssen uns auf das, was kommt, vorbereiten. 

Dieses „Wir“ – wen meinen Sie damit? 

Steinbeis: Jede Bürgerin und jeder Bürger. Alle Institutionen, alle Organisationen: Rechtsanwaltskanzleien, Verbände, Kommunen, Universitäten, Kulturinstitutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen, aber auch staatliche Institutionen – Beamtenapparat, Gerichte, Behörden. Da stellen sich Fragen, die wir uns bisher nie stellen mussten: Was passiert, wenn die Landes- oder Bundesebene kippt? Was habe ich dann in meiner Funktion für Handlungsspielräume?

Sie nutzen dafür das Instrument des Scenario Buildings – zum Beispiel im Thüringen-Projekt, in dem Sie mögliche Szenarien für eine AfD-Landesregierung durchgespielt haben. Die Idee: mögliche Zukünfte greifbar machen und dadurch Handlungsdruck erzeugen.

Steinbeis: Genau. Schon die Beschäftigung mit solchen Szenarien, ihr Ermitteln und Durchspielen, steigert die Resilienz. Wir haben viel Zeit damit verbracht, mit Leuten in Behörden oder Gerichten zu sprechen. Erstens, weil sie ihre Institutionen aus der Nähe kennen und über viel Wissen verfügen. Und zweitens, um sie dazu zu bringen, sich „Was-wäre-wenn“-Fragen zu stellen. Das entspricht nicht der juristischen Denkweise. Aber diesen Schritt zu gehen, heißt auch, die scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die die Basis jeder Institution sind, kritisch zu hinterfragen. Was passiert, wenn eine Regierung ein höchstrichterliches Urteil einfach ignoriert? 

Der Parlamentsalltag seit dem Einzug der AfD ist ja geprägt von Situationen, wo man sagt: „Das hat noch niemand gemacht.“ Aber daraus folgt gar nichts mehr, wenn man es mit einer Partei zu tun hat, deren strategisches Interesse es ist, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu behindern. Unser Ziel ist, dass man im Worst Case nicht bei null anfangen muss, sondern strategisch handlungsfähig wird. 

Menschen demonstrieren vor dem Landtag in Thüringen
Demonstration vor dem Thüringer Landtag: Die politischen Institutionen des Landes standen im Zentrum eines viel beachteten Forschungsprojekts des Verfassungsblogs.

Welche Erkenntnis hat Sie bei dieser Forschungsarbeit überrascht?

Steinbeis: Wir beschäftigen uns im Moment mit der Justiz, und da stecken wir noch mittendrin… Aber wenn man mit einem instrumentellen Blick auf Institutionen schaut – „Wofür kann man sie alles missbrauchen?“ –, stößt man auf erstaunliche Punkte. Man sieht zum Beispiel, wozu sich so ein unauffälliges Amt wie das des Alterspräsidenten eines Landtags so alles verwenden lässt. Und ist dann nicht überrascht, wenn es – wie in der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags im September 2024 – genau so kommt. 

Bemerkenswert finde ich auch: Die Delegitimierung und Destabilisierung der Justiz ist ein Muster, das man in Ungarn und Polen gesehen hat – und das wir hier ebenfalls beobachten. Beispiel: Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat den Plan der AfD vereitelt, den Landtagspräsidenten zu stellen. Und die Reaktion der AfD war, das Gericht als politisch besetzt, korrupt und rechtswidrig zu diffamieren. Das Ziel ist klar: Diese Institution soll sturmreif geschossen werden, um sie dann, wenn die AfD an die Macht gelangt, unterwerfen zu können. Genau das, was der politischen Gegenseite vorgeworfen wird, wird dann selbst in die Tat umgesetzt. 

Fällt Ihnen dieser Blickwinkel leicht – wie eine Art White-Hat-Hacker, der Schwachstellen im System sucht und behebt, statt sie für seine Zwecke zu nutzen?

Steinbeis: Der Hacker-Vergleich liegt nahe – und da ist auch etwas dran. Aber er führt auch in die Irre. Es ist nicht so, dass da irgendwelche Nerds im Keller sitzen und mit ihrem Spezialwissen auf spektakuläre Weise das System knacken. Die Angriffspunkte liegen oft relativ offen zutage, wenn man erst einmal diese instrumentelle Perspektive auf die Institutionen eingenommen hat, die den autoritären Populismus kennzeichnet. Weil autoritäre Populisten sich als „wahre Repräsentanten des Volkes“ sehen, brauchen sie Institutionen nicht zur Legitimation, sondern betrachten sie als Instrumente des Machterwerbs und Machterhalts. 

„Optimistisch im Sinne von ‚Alles wird gut‘ bin ich nicht. Dafür passieren auch in Deutschland schon zu viele problematische Dinge. Was ich aber beobachte, ist ein wachsender Fighting Spirit.“

Zitat vonMax Steinbeis
Zitat vonMax Steinbeis

Wir sprechen oft über Parlamente, Verfassungsgerichte, Bundespolizei – also die oberen Ebenen. Weniger präsent ist die kommunale Ebene. Wie sieht es in Städten, Gemeinden, Landkreisen aus?

Steinbeis: Sehr unterschiedlich. In vielen Kommunen ist die AfD kaum präsent, anderswo hat sie Mehrheiten. Im Thüringen-Projekt haben wir untersucht, was passiert, wenn Landratsämter in die Hände autoritärer Populisten fallen. Die Kommunen und Kreise sind die unterste Verwaltungsebene. Da geht es um den schlichten Gesetzesvollzug. Wie setzen die Behörden in einem von der AfD regierten Landkreis das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht um? Was passiert in den Schulen, im Ordnungsamt, in der Gewerbeaufsicht? Darauf hat der Landrat Einfluss, und wenn er ein autoritärer Populist ist, kann und wird er diesen Einfluss vermutlich missbrauchen.  

Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft?

Steinbeis: Wir sehen, dass private Fördermittelgeber sich stark dem Thema Demokratiesicherung zuwenden. Wir müssen die Abhängigkeit von staatlichen Geldern reduzieren, um weniger verwundbar zu sein. Staatliche Förderprogramme geraten zunehmend unter Druck – gerade in Ostdeutschland. Wenn einmal Strukturen auf dem Land verschwinden, sind sie schwer wieder aufzubauen. Stiftungen, die hier einspringen und Organisationen am Leben halten, sind enorm wichtig.

Letzte Frage: Was gibt jemandem wie Ihnen, der sich beruflich mit Worst-Case-Szenarien beschäftigt, trotzdem Anlass zu Optimismus?

Steinbeis: Optimistisch im Sinne von „Alles wird gut“ bin ich nicht. Dafür passieren auch in Deutschland schon zu viele problematische Dinge. Was ich aber beobachte, ist ein wachsender Fighting Spirit. Dieser Wille, es nicht einfach geschehen zu lassen – solange ich den bei vielen anderen sehe, bleibt er auch in mir lebendig. Und ich hoffe, dass ich Menschen, die mit mir arbeiten, ein ähnliches Gefühl geben kann. 

Menschen demonstrieren im Juni 2024 in Essen
Schwerpunkt 2025

Unsere Demokratie – unsere Verantwortung

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Wir leben in einer Zeit, in der das Vertrauen in demokratische Institutionen und Prozesse schwindet und rechtsextreme Parteien an Zulauf gewinnen. Daher legen wir von der Robert Bosch Stiftung 2025 einen Schwerpunkt auf das Thema Demokratie. Erfahren Sie hier, welche Ansätze wir verfolgen und was wir mit unseren Partner:innen bewirken wollen.

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