Interview

„Was in Israel passiert, ist einzigartig - und dann auch wieder nicht.“

Israel wird künftig noch stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sein. Dies trifft insbesondere marginalisierte Gruppen und Communities. Einblicke zur aktuellen Situation in Israel und welchen Einfluss die Proteste gegen die Justizreform auf das Zusammenleben haben.

Interview
Irene Weinz
Bilder
IMAGO
Datum
14. Juni 2023

Vom Klimawandel sind alle Menschen betroffen! Zugleich gibt es überall Bevölkerungsgruppen, die es besonders hart trifft. In Israel sind es mit der arabischen Minderheit immerhin etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung. Das bietet zusätzliches Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft, in der es ohnehin schon viele Spannungen gibt. Seit letztem Jahr fördert die Robert Bosch Stiftung deswegen Organisationen und Menschen, die sich dafür einsetzen, dass sich auch arabische Communities mit dem Klimawandel und seinen Folgen  auseinandersetzen. Diese Projekte werden natürlich nicht losgelöst von der Situation im Land umgesetzt. Wir suchen den Austausch mit lokalen und internationalen Expert:innen, um den Kontext und aktuelle Entwicklungen besser zu verstehen und einzuordnen. Eines dieser Gespräche führte unsere Kollegin Irene Weinz kürzlich mit Ido Dembin, Geschäftsführer der israelischen Denkfabrik Molad, über die andauernden Proteste gegen die von der Regierung geplante Justizreform. Wir geben seine Eindrücke von der gesellschaftlichen Stimmung wieder.
 

Ido, was passiert gerade innenpolitisch in Israel?

Ido Dembin: Seit im Dezember die neue Regierung unter Netanyahu gebildet wurde, hat sie versucht, eine sogenannte Justizreform voranzubringen. Wir – die Reformgegner:innen – sprechen von einer grundlegenden Neuauslegung oder gar einem Staatsstreich. Die sogenannte Reform beinhaltet eine Reihe neuer Gesetze, darunter auch neue Grundgesetze, die einer Verfassung entsprechen, die es in Israel nicht gibt. Die Regierung versucht, mehr Macht zu bekommen auf Kosten des Obersten Gerichts, aber auch der Knesset, die verglichen mit den Parlamenten anderer Länder ohnehin schon schwach ist.
Die größte Sorge ist, dass diese Überarbeitung der Regierung zu viel Macht geben würde, und zwar in einer Weise, die keiner modernen liberalen Demokratie entspricht. Ich sehe Israel in einer Entwicklung, wie sie Ungarn oder Polen gemacht haben; wo die Menschen zwar wählen dürfen, ihnen zugleich aber andere grundlegende demokratische Rechte entzogen wurden, während mehr und mehr Macht in den Händen der Regierung liegt.

Ido Dembin

Ido Dembin ist Geschäftsführer von Molad. Zuvor war er der zuständige Direktor für Israel der in New York ansässigen gemeinnützigen Organisation itrek. Er arbeitete als Berater der israelischen Mission bei der OECD, der UNESCO und dem Europarat in Paris, und als Rechtsanwalt und Rechtsreferendar bei Herzog, Fox & Neeman, Orna Lin und weiteren. Ido hat an der Universität Tel Aviv Rechtswissenschaften studiert und seinen Master in Human Rights an der Columbia University in New York gemacht. Er ist der Gründer und Chefredakteur von “Mr. Dembin Goes to Washington“, einem auf US-Politik ausgerichteten Magazin, und hat für verschiedene Medien wie Ha'aretz, Times of Israel, Walla!, Tablet Magazine und andere geschrieben.

Wie beeinflusst diese Situation die israelische Gesellschaft, wo wir seit Monaten bereits Proteste und eine gesellschaftliche Bewegung sehen, aber zugleich auch die Beziehung zwischen Israel und Palästina?

Seit Ankündigung der Reform sehen wir wachsenden Unmut und Meinungsverschiedenheiten in der israelischen Bevölkerung, auch bei denjenigen, die für die Regierungskoalition gestimmt haben. Nicht die üblichen Demonstrant:innen gehen auf die Straße, sondern auch ehemalige Soldat:innen oder Pilot:innen, die angekündigt haben, dieser Regierung nicht als Reservisten zur Verfügung zu stehen. Viele Menschen aus dem Hightech-Sektor, Israels wirtschaftlichem Zugpferd, investieren nun ihre Zeit, Energie und Finanzen in die Proteste. Und diese finden auch dort statt, wo man sie nicht erwarten würde: nicht nur in der Hauptstadt Tel Aviv als dem Zentrum des liberalen Israel, sondern im ganzen Land und sogar in Siedlungen.

Der andauernde Konflikt schadet dem Leben und der Gesellschaft in Israel. Die Wirtschaft ist stark beeinträchtigt, Aufträge und externe Investitionen werden zurückgezogen – auch von israelischen Investor:innen selbst. Die amerikanische Ratingagentur Moody’s hat Israel von einem positiven Ausblick auf stabil zurückgestuft aufgrund der aktuellen Ereignisse.
Innerhalb der Protestbewegung gibt es Spannungen, ob die Palästina-Thematik überhaupt diskutiert werden sollte. Einige Leute sagen, dass die aktuellen Schritte der Regierung ein Beweis für ihre extrem rechte Agenda sind, verbunden mit dem Ziel, die Palästinenser:innen vollständig zu kontrollieren oder gar die Westbank zu annektieren. Aber die Mehrzahl der Protestierenden hat Angst, Unterstützung zu verlieren, wenn andere Themen als die Gesetzgebung und das Oberste Gericht angesprochen werden - zum Beispiel der Konflikt, oder die Beziehungen zwischen praktizierenden und nicht-praktizierenden Juden oder eben den sogenannten arabischen Israelis. Genau deswegen zögern manche Leute, sich dem Protest anzuschließen. Und selbst wenn sie denken, dass der Konflikt und die Besetzung diskutiert werden sollten, haben sie das Gefühl, das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Bis zu einem gewissen Grad setzt die Regierung Netanyahu darauf, dass diese Spaltung innerhalb der Protestbewegung zu ihrer Schwächung führen wird.

Du hast gerade die arabische Minderheit angesprochen, etwa 20% der israelischen Bevölkerung. Wir, die Robert Bosch Stiftung, fördern innerhalb unserer Aktivitäten im Thema Frieden israelische Organisationen, die zum Einfluss des Klimawandels auf die Situation dieser Minderheit arbeiten. Kannst Du uns erklären, welche Rolle die Araber:innen in der israelischen Gesellschaft spielen?

Es ist wichtig, dies im gesamten Zusammenhang zu betrachten. Die Wahlbeteiligung der palästinensischen Bürger:innen Israels, die oft auch etwas neutraler als arabische Israelis bezeichnet werden, war oft niedriger als die der jüdischen Mehrheit. Städte mit einer jüdischen Mehrheit hatten mehr als 75 Prozent Wahlbeteiligung, wohingegen die arabische Beteiligung eher bei 50, manchmal 60 Prozent lag.
Als die Proteste begannen, waren nicht so viele palästinensische Israelis beteiligt. Zum Teil, weil sie glaubten, dass die Proteste nichts mit ihrem Leben oder dem Leben der Palästinenser:innen in der Westbank oder in Gaza zu tun haben, sondern eher mit dem Leben der Juden. Viele Araber:innen nehmen die Proteste nicht als Kampf für eine Demokratie für alle wahr, sondern für eine Demokratie für Juden.

Perspektivwechsel: Nationale Symbole verändern ihre Bedeutung

Ich persönlich denke, dass der einzige Weg zur Macht für das Mitte-Links-Bündnis oder das liberale Lager darin besteht, die palästinensischen Bürger:innen Israels zur aktiven Beteiligung zu ermutigen. Doch da gibt es zwei große Hindernisse: Erstens glauben diese, dass es hierbei nicht wirklich um sie geht. Zweitens, und das ist blanke Ironie, helfen die Proteste den Liberalen dabei, viele Symbole Israels zurückzuerobern. Lange Zeit waren es nur die Rechten, die die israelische Flagge schwenkten oder sich selbst Zionist:innen nannten.

„Aber jetzt, plötzlich, siehst du die Flagge, und sie bedeutet das genaue Gegenteil – ein liberales Symbol. Heute, wenn Du ein Auto mit der israelischen Flagge siehst, das nach Jerusalem fährt, kannst du fast sicher sein, dass diese Person den Protest unterstützt, was vor einem Jahr unvorstellbar war."

Zitat vonIdo Dembin

Lernen von anderen Ländern und ihren Fehlern

Die Linke hat sich fast für die Flagge geschämt, oder hatte das Gefühl, dass sie ihr von der Koalition genommen worden war. Jetzt können sie die Flagge schwenken, sie können sich selbst Zionist:innen nennen, sie kämpfen für ein demokratisches Israel. Aber das schließt die israelischen Palästinenser:innen weiterhin aus der Diskussion aus, weil sie sich nicht von der Flagge oder der Nationalhymne repräsentiert fühlen; letztere enthält beispielsweise den Ausdruck „jüdische Seele“. Also einerseits müssen die Proteste Raum schaffen für arabische Beteiligung, aber andererseits dürfen sie den Kampf um Israels nationale Identität nicht verlieren, und diese Balance wurde in den Protesten noch nicht erreicht.
 

Du sagtest gerade, dass es bei den Protesten auch um die nationale Identität geht. Was glaubst Du, wie sich die Situation entwickeln wird?

Vor einigen Wochen, während der Massenproteste nach der Entlassung des Verteidigungsministers, gingen über eine halbe Million Menschen spontan auf die Straßen und blockierten die Hauptverkehrsrouten. Daraufhin entschied Netanyahu, die Entlassung zurückzunehmen.
Aber die Opposition und die Protestierenden sind besorgt, dass er nach anderen und besseren Wegen sucht, um die Maßnahmen dennoch umzusetzen. Zum Beispiel wurde in Polen durch Proteste das Ende der angekündigten Reform erreicht, aber die Regierung begann dann, ein Gesetz nach dem anderen zu verabschieden, langsam, peu à peu, und letztlich mit Erfolg. Deswegen haben wir von den Erfahrungen in Ungarn und Polen gelernt und werden weiter protestieren, so lange bis die Regierung die neue Gesetzgebung vollständig absagt.
Es ist schwer vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird. Ich persönlich glaube nicht, dass die Regierung vier Jahre an der Macht bleiben wird. Ich hoffe aber auch, dass die Proteste nicht nachlassen. Bis jetzt ist das nicht der Fall, und jede Woche sind weiterhin Zehntausende auf den Straßen.

Du hast viel im Ausland gearbeitet. Was erwartest Du in der gegenwärtigen Situation von internationalen Partnern – oder findest Du, dass andere sich nicht in diesen innenpolitischen Konflikt einmischen sollten?

Ich habe nicht das Gefühl, dass wir das Privileg haben zu sagen, das sei nur unser Kampf. Wir sollten uns nicht scheuen, Hilfe von der Welt und unseren internationalen Partnern anzunehmen, die ein liberales Israel sehen wollen.
Außerdem gibt es viel zu lernen von unseren Partnern in anderen Ländern, in denen es gelungen ist, die extreme Rechte in ihre Schranken zu weisen, zum Beispiel in den USA oder Brasilien, und in gewissem Maße auch von Ländern wie Frankreich und Deutschland. In anderen Ländern haben wir den Aufstieg der extremen Rechten gesehen: in Italien, Polen und Ungarn. Wir müssen aus den Erfahrungen derjenigen lernen, die dabei waren – so wie in der Türkei, wo die Opposition ins Gefängnis gebracht wurde oder in Ungarn, wo die Bildungsschicht geächtet wurde, oder in den USA, wo Trump jeden zum Gegner erklärte, der seine Sicht nicht teilte. Wir werden auch unsere Erfahrungen mit anderen Menschen aus der ganzen Welt teilen, aber erst müssen wir hier erfolgreich sein.

Hintergrund

Förderprogramm Umweltpolitik und soziale Gerechtigkeit in Israel

Zum Projekt

Der Klimawandel hat weitreichende Auswirkungen auf Israel und den Nahen Osten. Expert:innen gehen davon aus, dass die Zukunft der Region durch veränderte Klimabedingungen und extreme Wetterereignisse, die Verknappung natürlicher Ressourcen und die anhaltende Umweltverschmutzung durch den Menschen dramatisch beeinflusst wird. Bestehende gesellschaftliche Konfliktlinien in Israel werden sich durch diese Dynamiken weiter verschärfen, vor allem dort, wo verschiedene Gruppen aufeinandertreffen und Segregation und soziale Ausgrenzung präsent sind.

Zum Projekt

Politikferne Menschen engagieren sich für ihre Grundrechte

Ich würde gerne betonen, dass alles, was in Israel passiert, zugleich einzigartig ist und dann auch wieder nicht. Viele liberale Demokratien sahen sich im letzten Jahrzehnt mit Herausforderungen konfrontiert. Wir haben den Brexit gesehen und Trump, um nur einige zu benennen. Insofern scheint es ein globaler Trend zu sein. Zugleich hat Israel einzigartige Eigenschaften, die es angreifbarer machen. Angreifbarer, weil Israel keine Verfassung hat, es ist nur 75 Jahre alt, und Netanyahu ist bereits seit 15 Jahren an der Macht. Es ist schwer, die Menschen davon zu überzeugen, dass er sich zu einem populistischen Staatsoberhaupt gewandelt und der extremen Rechten zugewandt hat. Und, das ist offensichtlich, wir haben den Israel-Palästina-Konflikt, was eine sehr einzigartige Situation darstellt. Zudem wurde Israel als eine Demokratie gegründet, und das ist einzigartig, denn es war nie etwas anderes. Man kann kritisieren, dass die Demokratie beschädigt wurde und dass sie nie eine politische Heimat für die Palästinenser:innen war, und das ist alles richtig. Aber neun Millionen Israelis wissen nicht, wie es ist, in einem nicht-demokratischen Staat zu leben. Für sie sind freie Rede, Versammlungsfreiheit, Gleichheit, Wahlrecht und das Recht zu protestieren gegeben. Das ist ein riesiger Vorteil. Und jetzt merken Menschen, die sich nie um Politik gekümmert haben, zum Beispiel im Hightech-Sektor, dass ihre Grundrechte bedroht sind und sind bereit, sich gegen diese Maßnahmen zu wehren. Das ist einzigartig in Israel und es hilft den Protesten.
 

Was erhoffst Du Dir, was wünschst Du Dir für die kommenden Wochen und Monate?

Ich habe sehr viel Hoffnung. Ich möchte das mit einem Bild erklären: Wir sind in einer einzigartigen Situation in Israel, wo das Saatkorn des neuen politischen Denkens gesät und der Boden bewässert wurde. Jetzt brauchen wir nur noch Sonne, um es sprießen und wachsen zu lassen. Und diese Sonne sind der anhaltende Protest und Politiker, die nicht nachgeben und keine faulen Kompromisse suchen, sondern standhaft sind und eine neue Vision entwickeln. Wir müssen mutiger sein, wir brauchen Ideen, wir dürfen uns nicht schämen, dass wir eine andere Vorstellung von Demokratie haben als die aktuelle Regierung. Wir haben das Potenzial, aber wir brauchen Sonne, um unsere Vision Realität werden zu lassen.

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