Durch den Klimawandel wird im Nahen und Mittleren Osten Wasser knapp und Landwirtschaft immer schwieriger. Die Folgen sind Landflucht und steigendes Konfliktpotenzial, was wiederum den Klimawandel verstärkt. Wir beleuchten drei Orte, an denen dieser Teufelskreis spürbar wird – und zeigen Auswege.
Die City Mall in der jordanischen Hauptstadt Amman ist ein Einkaufszentrum, wie es sie überall auf der Welt gibt: Markenläden und Fast-Food-Restaurants, Klimaanlagen und künstliches Licht. Aber im Sommer trifft man in der Gegend nicht nur Shopping-Begeisterte mit großen Tüten, sondern auch Menschen mit Sensen und Sicheln. In der westlichen Vorstadt von Amman baut das Agrar-Kollektiv „Al-Barakeh Wheat“ seit 2019 auf urbanen Brachflächen Weizen an. Hunderte Menschen lernten hier bereits, wie man Weizen sät, erntet und verarbeitet – viele Familien sichern sich so Mehl für ein ganzes Jahr.
Der Getreideanbau wurde in dieser Region, dem „fruchtbaren Halbmond“ zwischen der Levante und dem südlichen Irak, erfunden. Noch in den 1960er-Jahren exportierte Jordanien Weizen in die ganze Welt – heute importiert das Land über 90 Prozent seines Getreides und ist abhängig von globalen Preissteigerungen und Konflikten wie dem Krieg gegen die Ukraine. Ähnlich ist es in den Nachbarstaaten. Der Preis für Weizen stieg laut World Food Programme im Libanon im Frühjahr 2022 sprunghaft um knapp 50 Prozent. „Es kommt heute immer wieder zu Protesten gegen Inflation und zu Streit in Warteschlangen“, sagt Sarine Karajerjian, Leiterin des Bereichs Umweltpolitik am Thinktank Arab Reform Initiative. „Die Menschen in unserer Region sind leider Konflikte und Unruhe gewohnt, und das wird in den kommenden Jahren wohl auch so bleiben.“
Die steigenden Temperaturen haben nachgewiesenermaßen einen negativen Einfluss auf die Weizenproduktion. Laut dem Bericht „Arab Climate Futures“ des Thinktanks European Union Institute for Security Studies werden acht Prozent der gesamten irakischen, libanesischen und syrischen Anbauflächen in den kommenden Jahren verloren gehen. Der Klimawandel führt zu einem Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und einem weiteren Anstieg der Preise. Schon heute sind 53 Prozent der Menschen in Jordanien von Ernährungsunsicherheit bedroht. Noch höher ist diese Zahl in Ländern wie dem Jemen, die unter Krieg und Gewalt leiden. Dort sind aktuell 80 Prozent der Menschen auf Hilfe angewiesen. Die Folge: Millionen Menschen könnten innerhalb der Region migrieren – und ein Teil von ihnen auch nach Europa auswandern.
Die Lösung liegt laut Sarine Karajerjian nicht allein in internationaler Hilfe oder Ausgleichszahlungen aus dem im November 2022 auf der Weltklimakonferenz angekündigten Klimafonds für Verluste und Schäden, sondern auch in einer Verbesserung der Nahrungsmittelsouveränität der Region. Dafür brauche es neben Agrarreformen (etwa: staatliche Subventionen) oder Technologien (etwa: effizientere Bewässerungssysteme) auch ein grundsätzlicheres Umdenken. „Wenn ich durch den Libanon fahre“, erzählt Karajerjian, „sehe ich viele Plantagen, deren Ernten nur für europäische Supermärkte bestimmt sind.“ Viele Menschen in der MENA-Region fragten sich: „Warum haben wir so viele Ressourcen und sind dennoch so arm?“
Eine Lösung könnten also Exporte „aus dem globalen Süden für den globalen Süden sein“, sagt Sarine Karajerjian. Und das gelte nicht nur für den Austausch von Ressourcen, sondern auch für Ideen. „Wir leben viel zu sehr in unseren regionalen Silos und lernen nicht voneinander in Sachen Landwirtschaft oder Wassermanagement.“
Städte sind für viele Menschen die letzte Zuflucht – und genau deshalb werden sie zur Falle. 2021 gab es im Irak, in dem rund 41 Millionen Menschen leben, eine Million Binnengeflüchtete. Die Kämpfe mit dem Islamischen Staat waren weitgehend ausgestanden, Frieden gab es für die Menschen trotzdem nicht. „Der Klimawandel ist die Hauptursache für Landflucht und Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen im Irak“, sagt Shivan Fazil, der beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) arbeitet und unter anderem über die Ursachen von gewaltsamen Konflikten in der MENA-Region forscht. Die Fluchtgründe lassen sich exakt benennen: Wassermangel, Wüstenbildung, Sandstürme, Tod des Viehs, Ernteausfall. Am stärksten betroffen ist die Region um Basra im Südosten des Landes. „Es ist immer dasselbe Muster“, erklärt Fazil. „Über Jahre gehen die Ernteerträge zurück. Ab einem gewissen Punkt ist der Stress in der Bevölkerung so groß, dass es zu Verteilungskämpfen um die knappen Ressourcen kommt.“ Alte Stammesrivalitäten flammen wieder auf – ein stiller, von der Welt nicht bemerkter Bürgerkrieg schwelt. Die Menschen flüchten, und es gibt für sie nur ein Ziel: die Städte.
In den Jahren zwischen 2010 und 2020 wuchs die Bevölkerung von Bagdad um 1,4 Millionen auf nun 7,5 Millionen. Mossul und Basra weisen eine ähnliche Dynamik auf. „Dieses Wachstum ist fast ausschließlich horizontal“, sagt Fazil. Die Städte wuchern ins Umland. Wie stark, kann niemand sagen, da der größte Teil der Expansion schlecht geplant ist und ohne den Aufbau von Kommunalverwaltungen einhergeht. „Die Behörden schaffen es nicht mehr, die nötige Infrastruktur bereitzustellen“, so Fazil. Das bedeutet: In einem Großteil dieser Siedlungen gibt es weder Straßen noch eine Kanalisation. Zugleich ist die Konkurrenz um Arbeitsplätze in der informellen Wirtschaft groß, da die Menschen nur illegal auf dem Schwarzmarkt Geld verdienen können. „Jährlich kommt etwa eine Million Menschen neu auf den Arbeitsmarkt“, sagt Fazil. „Nur ein Bruchteil findet eine Anstellung. Und wer keine Kontakte hat, hat keine Chance auf einen Job.“
Die Menschen fliehen vor den Folgen des Klimawandels in die Städte – aber auch dort herrschen lebensfeindliche Bedingungen. „Bei Temperaturen über 50 Grad kann man das Haus nicht mehr verlassen“, erklärt Fazil. Zugleich aber müssen die Menschen raus, um für sich zu sorgen. Die To-do-Liste für Stadtplaner:innen und Regierungen ist entsprechend lang. „Die Häuser müssen gedämmt werden, damit sie ohne enormen Energieaufwand bei Hitze und Kälte bewohnbar bleiben“, sagt Fazil. „Wir brauchen Straßen, Kanalisation sowie Wasser- und Stromnetzwerke. Die Regierungen müssen endlich öffentliche Nahverkehrsnetze bauen.“
2008 hatten noch 98 Prozent der syrischen Bevölkerung einen sicheren und verlässlichen Zugang zu Trinkwasser. 2021, nach langen Jahren der Dürre und der Gewalt, waren es laut Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen nur noch 50 Prozent. Ein funktionierender Wasserhahn wurde von einem banalen Alltagsgegenstand zu einem überlebenswichtigen Objekt. Und der Zugang zu Wasser, wie der US-Politikwissenschaftler Marcus D. King schreibt, zu einer strategischen und taktischen Waffe, mit der Konfliktparteien einander bekämpfen oder zum Einlenken zwingen.
Im syrischen Bürgerkrieg dokumentierte Marcus D. King gemeinsam mit Kolleg:innen zwischen 2012 und 2016 insgesamt 44 „größere Beispiele für den Einsatz von Wasser als Waffe“ – in mehr als 50 Prozent der Fälle sei die Terrororganisation Islamischer Staat verantwortlich gewesen: indirekt, wenn der IS in Rakka eine Wassersteuer erhob, um neue Waffen kaufen zu können, oder direkt, wenn ein Damm geöffnet wurde, um den Fortschritt der gegnerischen Kräfte aufzuhalten.
12 der 17 Staaten, die am stärksten von Wassermangel bedroht sind, liegen in der MENA-Region. Auch wenn Wasser außerhalb von Kriegsgebieten wie Syrien oder dem Jemen nur selten offen als Waffe verwendet wird, konkurrieren die Staaten der Region doch um die sogenannte „Hydro-Hegemonie“. 2018 nahm zum Beispiel die Türkei den Ilisu-Damm in Betrieb, der den Tigris an dessen Oberlauf staut. Der Stausee hält mehr als eine Milliarde Kubikmeter Wasser zurück. Die Auswirkungen auf die Regionen flussabwärts sind bis heute spürbar: Das Newsportal „The National“ berichtet von einem Bauern im nördlichen Irak, der im Herbst 2021 noch 125 Hektar fruchtbares Land bestellte. Aufgrund des Wassermangels konnte er rund ein halbes Jahr später nur noch auf 47 Hektar ernten.
Ähnliche Verteilungskämpfe gibt es auch zwischen Äthiopien und Ägypten. In dem Maße, wie Wasser zu einem knappen Gut wird, wachsen die Begehrlichkeiten. Dammprojekte an Oberläufen von Flüssen können von den benachbarten Nationen nicht verhindert werden. Dabei ist der zunehmende Dammbau Ursache und Folge der Wasserknappheit zugleich. Hinzu kommt, dass die gesamte Region aufgrund des Klimawandels Jahr für Jahr trockener wird. In den 1970er-Jahren transportierte der Tigris pro Jahr noch etwa 80 Milliarden Kubikmeter Wasser – heute sind es weniger als 50 Milliarden. Regionen, in denen keine Landwirtschaft mehr möglich ist, werden zu ungenutztem Ödland. Und in den Städten führt die Trockenheit zu Gewalt. Das Friedensforschungsinstitut SIPRI hat herausgearbeitet, dass so gut wie alle Unruhen, die 2020 und 2021 in irakischen Großstädten stattfanden, direkt mit „Wasser-Stress“ zusammenhingen.
Deshalb ist ein effizienteres Wassermanagement laut Fazil der wichtigste Ansatzpunkt, um Konflikte abzumildern oder im besten Fall zu vermeiden. „Dafür braucht man ein smartes System, in dem mehrere Maßnahmen ineinandergreifen“, erklärt er. Zum Beispiel müsste in der Landwirtschaft, für die im Irak ein Großteil des Wassers aufgewendet wird, vor allem Grauwasser, das aber nicht toxisch verunreinigt ist, zur Bewässerung genutzt werden. Gleichzeitig brauche es intelligente Bewässerungssysteme und den Einsatz von dürreresistenteren Pflanzensorten, die Wasser effizienter nutzen. „Wir müssen uns an die Bedingungen des Klimawandels anpassen“, so Fazil. „Weiterzumachen wie bisher ist keine Option.“