Ab 2024 entsteht in Stuttgart, Tübingen und Ulm das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) SüdWest. Expert:innen des Bosch Health Campus und der Universitätskliniken Tübingen und Ulm arbeiten an maßgeschneiderten Krebstherapien. Von diesem Austausch profitieren Patient:innen schon heute – etwa durch das Molekulare Tumorboard.
Weißes LED-Licht an der Decke, große Whiteboards für schnelle Ideen, Filterkaffee in Thermoskannen: ein Konferenzraum, wie es ihn millionenfach gibt. Bei dem Meeting der sieben Personen, die hier zusammensitzen, geht es jedoch nicht um Absatzzahlen oder Marketingstrategien, sondern um einfach alles – Leben und Tod. Jeden Donnerstag um zwölf Uhr tagt das „Molekulare Tumorboard“, dann treffen sich Expert:innen des Robert-Bosch-Krankenhauses und des Universitätsklinikums Tübingen, um sich über Fälle von Krebserkrankungen auszutauschen. Etwa: „Lungenkarzinom, EGFR Exon19-Deletion, Erstdiagnose 04/2018, seither zwei zielgerichtete Therapielinien mit Afatinib, gefolgt von Osimertinib. Aktuell neuerlicher Progress und Resistenztestung mit Nachweis einer T790M-Mutation und einer C797S-Mutation, in trans.“ Alle im Raum nicken, sind im Bilde.
Vor fünf Jahren wurde bei der 72-jährigen Maria Kamm (Name geändert) ein Lungenkarzinom entdeckt, ihre Chancen waren nicht gut. „Lungenkrebs ist nach wie vor sehr tödlich“, sagt Prof. Dr. Hans-Georg Kopp, Chefarzt am Centrum für Tumorerkrankungen und Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus, „allerdings wurden bei der Erforschung der Krebserkrankung in den vergangenen zehn Jahren wirklich unfassbare Fortschritte gemacht – gerade auf genetischer Ebene.“ Genau darum geht es bei der Arbeit des Molekularen Tumorboards. Bei einer der vorherigen Tumorkonferenzen teilten Dr. Annette Staiger, Molekularbiologin am Robert-Bosch-Krankenhaus, und Dr. Christopher Schroeder, Humangenetiker am Universitätsklinikum Tübingen, eine wichtige Information: Frau Kamms Tumor weist eine Mutation im EGFR-Gen auf, das für das Wachstum verantwortlich ist. Damit eröffneten sich neue Möglichkeiten zur onkologischen Behandlung – und eine Perspektive für Frau Kamm.
Der Bosch Health Campus vereint alle Stiftungsaktivitäten und -institutionen im Bereich Gesundheit: in der Behandlung von Patient:innen, der biomedizinischen Forschung, in der medizinisch-pflegerischen Aus-, Fort- und Weiterbildung und in der Förderung vielversprechender neuer Ideen für eine bessere Gesundheitsversorgung. Drei Einrichtungen des Campus - das Robert-Bosch-Krankenhaus, das Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie und das Robert Bosch Centrum für Tumorerkrankungen - arbeiten künftig mit Expert:innen aus Tübingen und Ulm am neuen NCT SüdWest zusammen.
Tumorboards ermöglichen den interdisziplinären Austausch über onkologische Fälle und sind heute Standard in der Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen. Das Molekulare Tumorboard des Bosch Health Campus und des Universitätsklinikums Tübingen ist dennoch eine Ausnahme, denn hier fließt die neueste Forschung aus den beiden Häusern zu Genetik und Onkologie zusammen, wovon Patient:innen wie Frau Kamm direkt profitieren. Diese lebensrettende Form von Kooperation zwischen verschiedenen Fachdisziplinen, Fakultäten und Häusern wird künftig auf ein noch breiteres Fundament gestellt: Im Frühjahr 2023 erhielt ein Verbund des Bosch Health Campus in Stuttgart und der Universitätskliniken Tübingen und Ulm den finalen Zuschlag, ein Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) SüdWest aufzubauen.
Im Zuge der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufenen „Nationalen Dekade gegen Krebs“ konnten sich bundesweit Kliniken und Forschungseinrichtungen um den Titel und Fördermittel bewerben. Stuttgart, Tübingen und Ulm setzten sich durch und sind nun Teil eines bundesweiten Exzellenz-Netzwerks, das pro Jahr mit bis zu 98 Millionen Euro von Bund und Ländern gefördert werden soll. So wird das neue NCT SüdWest unter anderem einen mehr als 6000 Quadratmeter großen Neubau am Standort Tübingen realisieren, dessen Herzstück eine „Early Clinic Trials Unit“ sein wird. Damit gibt es im wahrsten Sinn des Wortes mehr Raum für eine der Kernkompetenzen der drei Häuser: die Forschung zu neuen Krebstherapien – und deren schnelle Übersetzung in den Klinikalltag, die sogenannte Translation. „Wir wollen mit dem Tumorzentrum nicht nur neues Wissen generieren“, sagt Prof. Dr. Alscher, Geschäftsführer der Bosch Health Campus GmbH Stuttgart und Professor an der Universität Tübingen. „Unser Ziel ist es, in den nächsten zwei Jahren 20 Prozent unserer Patient:innen in klinische Studien aufzunehmen – doppelt so viele wie heute.“
Am Robert-Bosch-Krankenhaus hat man sich unter anderem auf die Therapie von Lungenkrebs spezialisiert. Am Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie wird an maßgeschneiderten Medikamenten geforscht.
Das Beispiel der Lungenkrebspatientin Maria Kamm zeigt eindrücklich, wie die Highspeed-Medizin Leben retten kann. Bis vor etwa zehn Jahren gab es für die meisten Lungenkrebsarten nur die Behandlung mit Cytostatika, gemeinhin Chemotherapie genannt. Diese Medikamente hemmen jedoch nicht nur das Zellwachstum im Tumor, sondern im gesamten Körper – mit den daraus resultierenden Nebenwirkungen. Eine neue Generation von Arzneimitteln, die sogenannten Inhibitoren, setzt direkt am Stoffwechsel des Tumors an – damit sie wirken, muss dieser eine entsprechende Mutation aufweisen. Und weil der Krebs lernt und Resistenzen gegenüber dem Inhibitor entwickeln kann, „kommt es zu einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Medizin und dem Tumor“, wie Molekularbiologin Dr. Annette Staiger erklärt. „Wir müssen immer einen Schritt voraus sein.“
Im Fall von Frau Kamm erkannten die Expert:innen, dass bei ihrer Krebserkrankung zusätzlich zur krankheitsverursachenden Mutation zwei unterschiedliche Resistenzmutationen vorliegen – aber verteilt auf zwei Allele. Damit ist klar: Bei der Patientin kann eine Kombination zweier als Tablette verfügbarer EGFR-Hemmstoffe eingesetzt werden. Dr. Annette Staiger sagt: „So konnten wir zur Behandlung zwei verschiedene Generationen von EGFR-Inhibitoren verwenden, die zwar als Einzelsubstanzen versagen, aber als Kombination wirksam bleiben. So haben wir die Resistenz ausgehebelt.“ Der behandelnde Arzt Prof. Kopp beschreibt diesen Fall als Glück für die Patientin, die weiterhin erfolgreich mit Tabletten behandelt werden kann, aber auch als konkrete Folge der aktuellen Forschungen zu Resistenzen: „Dafür mussten wir das Genom des Tumors sehr genau analysieren. Das ist immer noch die Ausnahme, und wir sind etwas stolz darauf, dass wir im Verbund mit Tübingen die Kapazitäten haben, so präzise zu arbeiten, und uns dann im Tumorboard darüber verständigen können.“
Am Universitätsklinikum Tübingen hat man große Kapazitäten zur Gensequenzierung aufgebaut – so können individuelle Krebstreiber besser identifiziert werden.
Der Humangenetiker Dr. Christopher Schroeder vom Universitätsklinikum Tübingen kommt ins Spiel, wenn große Genomanalysen nötig sind. Er nimmt dann Tumor- und Blutproben mit und lässt sie in Tübingen verarbeiten. Wenn er von den Geräten erzählt, mit denen diese Sequenzierungen vorgenommen werden, klingt er ein bisschen wie ein Junge, der von der Leistung von Flugzeugen schwärmt, die auf Quartettkarten abgebildet sind. „Bei dem von uns verwendeten ‚Next Generation Sequencing‘ können mehrere Hundert Millionen DNA-Fragmente in einer Probe parallel untersucht werden“, sagt Dr. Schroeder. Bis vor wenigen Jahren wurden in Tübingen 300 Gene von Tumor- und Patient:innengenomen untersucht. Dann wurden es 700. Und seit Anfang 2023 wird das gesamte Exom, also der „schreibende“ Teil der DNA, analysiert: etwa 23.000 Gene. „Und das alles geht innerhalb weniger Tage“, so Dr. Schroeder. Alles deute darauf hin, dass die Steigerungsraten der Kapazitäten in der Gendiagnostik selbst das berühmte Mooresche Gesetz übertreffen, demzufolge sich die Zahl der Transistoren auf einem Chip alle 18 bis 24 Monate verdoppelt. Dr. Schroeder sagt: „Wir können nur ahnen, was schon in wenigen Jahren möglich sein wird.“
Der Austausch und die Kollaboration im Rahmen des Tumorboards wirken im Vergleich dazu fast unspektakulär: Sieben Menschen in weißen Kitteln sitzen zusammen, scrollen durch Tabellen und werfen Begriffe wie „EGFR C797S, beide trans“ durch den Raum. Aber so ist es ja oft in der Forschung: Wahre, wirksame Innovation entsteht, wenn das Besondere in den Alltag überführt und zur Routine wird.
Am Universitätsklinikum Ulm liegt ein Schwerpunkt auf Blut- und Lymphdrüsenkrebs.
Zwölf Fälle werden an diesem Tag vom Tumorboard diskutiert. Zum Teil sind es Patient:innen aus Übersee, die von der genetischen Expertise der Häuser in Stuttgart und Tübingen erfahren und sich zur Behandlung angemeldet haben. Im schnellen Austausch von Kürzeln verständigen sich die Expert:innen über die Möglichkeiten und Chancen individueller Therapien. Manchmal ist die Antwort dann ein kurzes, resigniertes Kopfschütteln, bevor es schnell zum nächsten Fall geht. „In den meisten der heute besprochenen Fälle hatten wir aber eine gute Nachricht“, sagt Prof. Kopp nach der Sitzung. „Und der Fall von Frau Kamm ist wirklich sensationell: Seit über fünf Jahren ist ihr Krebs diagnostiziert – und sie musste noch keine Chemotherapie über sich ergehen lassen.“
2019 wurde die „Nationale Dekade gegen Krebs“ ausgerufen und die „Vision Zero“: die Hoffnung, dass in Zukunft kein einziger Mensch mehr an Krebs sterben muss. „So weit sind wir leider noch nicht“, sagt RBK-Chef Prof. Alscher ganz offen. „Aber immer öfter kann Krebs in eine chronische, also nicht mehr akut lebensbedrohliche Krankheit überführt oder sogar geheilt werden.“ Das neue NCT SüdWest wird in diesem Kampf ein entscheidender Standort sein, mit neuer Infrastruktur, neuer Man- und Womanpower sowie neuen Ideen. Der interdisziplinäre Austausch zwischen den Besten der Zunft wird dann nicht nur jeden Donnerstag um halb eins, sondern täglich stattfinden. Für den Krebs bricht dann ein ungemütliches Jahrzehnt an.