Social Media und Integration

Das unsichtbare Support-Netzwerk

Geschlossene Gruppen in Messenger-Diensten wie Telegram oder Whatsapp gelten vielen als Treiber von Desinformation und Radikalisierung. Gleichzeitig können migrantische Social-Media-Communitys eine wichtige Rolle bei der Integration von Neuzugewanderten spielen. Wir haben uns bei der Facebook-Gruppe „Russischsprachige Mütter in Deutschland“ eingeloggt, um diesen Widerspruch zu untersuchen.

Reportage
Tobias Moorstedt
Bilder
Anna Aicher
Datum
13. Juni 2022

Als Kateryna Pysarevych gar nicht mehr weiterwusste, ging sie online: Im Herbst 2020 hatte sie ihr erstes Kind bekommen, einen Sohn, ihr großes Glück. Die Geburt war sehr anstrengend verlaufen, der Kleine schlief schlecht, sie war erschöpft und ohne Kraft. Dann bekam ihr Mann eine schwere Corona-Infektion, konnte das Bett nicht mehr verlassen. Kateryna Pysarevych war auf sich allein gestellt, in einem Land, das ihr auch zwei Jahre nach dem Umzug von Kyiv nach Hanau fremd geblieben war und dessen Sprache sie kaum beherrschte. Dann bekam auch ihr Sohn hohes Fieber. Ist es dieses Virus? Wen kann ich anrufen? Was jetzt?

In der Facebook-Suche gab sie auf Russisch „Tipps für Mütter“ ein und bekam einen Treffer: „Russischsprachige Mütter in Deutschland“, eine Facebook-Gruppe mit mehr als 30.000 Mitgliedern. Dort beschrieb sie ihre Situation. Drückte auf den Senden-Knopf. Wartete.

„Das hatten wir auch gerade: Bleib ganz ruhig.“ 

„Wenn das Fieber auch nach 24 Stunden nicht sinkt, ruf den hausärztlichen Notdienst an.“

„Wo wohnst du, Kateryna? Vielleicht kenne ich jemanden in deiner Nähe, der für euch einkaufen kann!“

Durch die Gruppe hatte die junge Mutter nicht nur eine Telefonnummer bekommen und ein paar Links. „Ich verstand plötzlich, dass ich nicht allein bin.“ Auch fast zwei Jahre später ist sie immer noch sichtlich bewegt, wenn sie an diesen Moment zurückdenkt. Sie sitzt in einem Café in einem Hanauer Gewerbegebiet und erklärt in einem perfekt verständlichen 50/50-Mix aus Deutsch und Englisch, wie entspannend sie die Fachwerk-Altstadt am Main findet. In der Ukraine arbeitete sie früher als Personalerin bei Danone und Real, heute sieht sie sich als Künstlerin und verkauft selbstgestalteten Schmuck im Netz. Trotz ihrer digitalen Kompetenz und der Berufserfahrung in europäischen Großkonzernen fiel ihr die Ankunft in Deutschland schwer: Lohnt sich ein Sprachkurs? Welcher genau? Wie funktioniert das Gesundheitssystem hier?

„Warum habe ich die Gruppe erst nach zwei Jahren gefunden?“

„In der Gruppe sind viele Frauen, die den Unterschied zwischen der Ukraine und Deutschland aus eigener Erfahrung kennen“, sagt Kateryna Pysarevych, „interessante Menschen, Ärztinnen, Lehrinnen, Juristinnen.“ Bis heute besucht sie etwa dreimal am Tag die Müttergruppe, obwohl „ich eigentlich keine Wickel-Tipps mehr brauche“. Durch die Elternperspektive, die U1- bis U9-Untersuchungen ihres Sohnes in der Kinderarztpraxis, das Drogeriesortiment und die Kita-Politik hat sie Deutschland verstehen gelernt. Nur eine Sache beschäftigt sie: „Warum habe ich die Gruppe erst nach zwei Jahren gefunden? Es hätte meinen Start in Deutschland so sehr vereinfacht.“

Kateryna Pysarevych sitzt in einem Café
Kateryna Pysarevych kam 2018 aus Kyiv ins hessische Hanau. Durch die Facebook-Gruppe hat sie viel über Deutschland gelernt – und Freundinnen gefunden.

Geschlossene Gruppen auf Facebook, Whatsapp oder Telegram werden aktuell in vielen Analysen als Echokammern und Treiber von Desinformation beschrieben. Denn dort können sich Menschen mit ähnlichen Haltungen oder Interessen in ihrer Meinung bestärken, ohne mit abweichenden Informationen in Kontakt zu kommen. Gruppen wie die „Russischsprachigen Mütter in Deutschland“ zeigen jedoch, dass digitale Communities von Zugewanderten nicht zwangsläufig Parallelgesellschaften sind, die sich von der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland entkoppeln. Im Gegenteil.

„In vielen Social-Media-Spaces migrantischer Communities werden Fragen der Integration durch die Mitglieder in Selbsthilfe bearbeitet“, heißt es in einer Analyse des Projekts „NexSM“, das Zusammenhänge zwischen Social Media, Migration und Gesellschaftspolitik erforscht und von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. Es sind spannende Fragen: Wie helfen Migrant:innen einander, sich in Deutschland zurechtzufinden? Wie können Beratungsstellen oder Behörden mit migrantischen Gruppen zielführend zusammenarbeiten? Und: Welche Faktoren bestimmen, ob eine Social-Media-Gruppe zu einer Echokammer wird oder als eine Art outgesourcte Integrationsberatungsstelle funktioniert? Wie wird aus einer potenziellen Bubble eine Brücke?

Über das Projekt

NexSM: Social Media for Migration and Society

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Das Projekt "NexSM: Social Media for Migration and Society – Analysis, discourse, learning and networking" wird von der Berliner Migrant:innenselbstorganisation La Red – Vernetzung und Integration e.V. in Kooperation mit Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung gGmbh durchgeführt. Ziel ist eine wissenschaftliche sowie praxisorientierte Auseinandersetzung mit den fundamentalen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Einwanderungsgesellschaft. Mithilfe einer Austausch- und Bildungsplattform wird die Partizipation von Migrant:innenselbstorganisationen am wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs gestärkt.

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Auf der Homepage der Gruppe dominiert ein knalliges Korallenrot, aber auch Schwarz-Rot-Gold ist zu sehen – ebenso wie die Emojis für Lippenstift, High Heels und eine Rose. Männer sind hier nicht erlaubt. Die Gruppe soll ein sicherer Ort sein. Jeden Tag senden die Mitglieder zwischen 40 und 80 Posts in die Gruppe.

„Challenge: Wer hat die schönsten Balkonblumen?“

„Meine Oma steckt in Charkiw fest. Kann sie jemand nach Lviv mitnehmen?“

„Seit ich diese Creme nutze, macht mir das harte Wasser in Deutschland nichts mehr aus.“

„Wie schickt man aktuell Geld nach Russland?“

„Was ist mein Bildungsabschluss hier wert?“

„Kennt jemand einen guten Friseur in Bielefeld?“

Eine Mischung aus Fragen, Updates und Lifehacks. Und vielleicht ist das schon die erste Eigenschaft, die eine demokratische, offene Social-Media-Gruppe auszeichnet: die thematische Vielfalt. Wenn das ganze Leben abgedeckt wird, kann man sich nur schwer irgendwo reinsteigern.

Nataliya Kudelya in der Würzburger Altstadt.
Gruppengründerin Nataliya Kudelya in der Würzburger Altstadt. Sie arbeitet beruflich mit Studierenden aus aller Welt und weiß, was es braucht, um sich an einem neuen Ort zu Hause zu fühlen.

„Russischsprachige Mütter in Deutschland“ wurde 2015 von Nataliya Kudelya gegründet. Die 39-Jährige arbeitet als Regionalmanagerin für Osteuropa an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt und realisierte irgendwann, dass es kaum einen besseren Ort gibt, um russischsprachige Studierende für ihre Hochschule zu gewinnen, als die Facebook-Gruppen deren Mütter: „Russian Moms in London“, „Spanish RuMamas“… Und weil es eine solche Gruppe in Deutschland nicht gab, gründete Kudelya sie kurzerhand selbst. „Ich habe nicht groß nachgedacht, sondern mich einfach danach gerichtet, was mir und meinen Freundinnen gefallen würde“, erinnert sie sich. So beginnen viele Start-up-Märchen. Schon nach wenigen Monaten hatte die Gruppe mehrere Tausend Mitglieder.

„In Osteuropa reden die Eltern ein Wort mit, wenn es darum geht, wo ihre Kinder studieren“, sagt Kudelya, „vor allem die Mütter. Egal ob es um Bildung, Gesundheit oder Sozialleben geht, die Frauen sind die Schnittstelle zwischen der Familie und der Gesellschaft.“

Kudelya hat selbst keine Kinder, sonst aber den perfekten Background, um russischsprachigen Müttern das Ankommen in Deutschland zu erleichtern. Sie kam für das Studium aus der Ukraine nach Deutschland, schrieb später ihre Master-Arbeit über „Crowdsourcing als Marketinginstrument“ und hilft jeden Tag ausländischen Studierenden beim Ankommen in Deutschland. Sie kennt die Macht des Schwarmwissens und der Technologie und weiß, wie man sich in den ersten Wochen und Monaten in der Fremde fühlt. „Die Menschen brauchen Freunde“, sagt sie, und das Gefühl, dass sie nicht die einzigen sind, die sich wundern, dass „deutsche Kindergartenkinder bei Regen rausgescheucht werden oder es verboten ist, Lehrer:innen ein Geschenk zu geben“. Es dauert, bis sich ein Gefühl der Normalität einstellt.

Ihr Smartphone lässt Kudelya kaum aus der Hand, sie ist meist an zwei Orten gleichzeitig, in Würzburg und im Clubhaus der russischsprachigen Mütter. Sie kennt die wenigsten der 33.000 Frauen persönlich, „aber es ist gut zu wissen, dass sie an meiner Seite sind“.

An normalen Tagen meldeten sich fünf bis zehn neue Mitglieder bei der Gruppe an. „Seit Februar 2022 sind es 30 bis 50“, sagt Nataliya Kudelya. Der Krieg in der Ukraine und die Fluchtbewegung in Richtung Westen zeigen sich in Echtzeit in den Statistiken ihrer Gruppe. Die Anzahl der Posts und Direktnachrichten auf ihrem Handy sind für sie „fast eine Möglichkeit, den Puls der Welt zu spüren“. Und zurzeit schlägt dieser hektisch und unregelmäßig.

Im April postete zum Beispiel eine ukrainische Mutter, die seit einem Monat mit ihrem Vierjährigen allein in Berlin lebt: „Ich kann nicht mehr!“ Und die Gruppe antwortete:

„In Deutschland sind Kitaplätze leider Mangelware.“

„Warum hast du Kinder bekommen, wenn sie dich nerven?“

„Hast du es schon mal mit einer Tagesmutter probiert?“

So viele Stimmen: empathisch. Herausfordernd. Pragmatisch. Aber einsam fühlt man sich nicht (mehr). 

Auf einen Blick

Welche Themen beschäftigen Mitglieder russischsprachiger Social-Media-Gruppen?

Die Datenanalyse wurde von Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung,
einer Partnerorganisation der Robert Bosch Stiftung, durchgeführt.

Grafische Darstellung der Interessen. Das größte Thema: Aufenthaltsrecht.
Vollbildmodus

Zwischen Februar und März 2022 sind die Mitgliederzahlen von ukrainischen Social-Media-Gruppen in Deutschland laut einer Analyse des digitalen Streetworking-Projekts Fem.OS um 120 Prozent gestiegen. 75 Prozent der erfassten Beratungsfragen bezogen sich auf Themen wie Bleiberecht, Krankenversicherung oder Arbeitsmarkt. Die direkten Erfahrungen anderer Nutzer:innen helfen den Neuzugewanderten weiter. Digitale Streetworker suchen Neuzugewanderte proaktiv in sozialen Medien auf und bieten in deren Muttersprache Informationen und Unterstützung an. Auch die „Russischsprachige Mütter in Deutschland“-Gruppe hat schon mit Fem.OS kooperiert, das vom Berliner Projektkontor Minor, einer Partnerorganisation der Robert Bosch Stiftung, durchgeführt wird. In Zusammenarbeit mit der Gruppe wurde zum Beispiel eine „Ask me anything“-Session mit einer russischsprachigen Gesundheitsexpertin organisiert. Niedrigschwellige Formate sind neben der Sprache das wichtigste Erfolgskriterium, sagt Kudelya. Ihre Idee: kommentierte Videos, die mit einfachen Erklärungen (und Beispielen) in der jeweiligen Muttersprache dabei helfen, die komplexen Formulare in Deutschland auszufüllen.

„Es kann jederzeit kippen“

Die 30-jährige Iryna – ihren Nachnamen soll man hier nicht lesen – kam 2019 aus dem ukrainischen Dnipro nach München und litt ebenfalls unter dem „Einsamkeitsschock“. Über die Gruppe fand sie nicht nur Kontakte in der neuen Stadt, sondern sogar eine Frau, die im selben Vorlesungssaal der Universität Dnipro gesessen hatte wie sie. Die zweifache Mutter studiert heute Elektrotechnik an der Fachhochschule und trifft sich regelmäßig mit Gruppenmitgliedern – online und offline. Besonders interessiert sie sich für Bildungsthemen. Seit Beginn des Krieges, sagt sie, „sind jedoch selbst die banalsten Themen hochpolitisch. Es kann sofort kippen!“

Iryna schaut auf ihr Handy
Iryna hat in Dnipro Elektrotechnik studiert, hat aber das Gefühl, noch mehr lernen zu müssen, „um es in Deutschland zu schaffen“.

In der Facebook-Gruppe sind mehr Frauen aus Moskau aktiv als aus Kyiv oder Hamburg. Es gibt Nutzerinnen mit den blau-gelben Avataren, die man überall im europäischen Netz sieht, aber auch solche mit russischen Fahnen oder UdSSR-Icons. Vielleicht ist das die zweite Eigenschaft, warum eine offene Haltung in der Gruppe vorherrscht: dass dort Menschen unterschiedlicher Herkunft aktiv sind und keine Gruppe die Deutungshoheit innehat. Und drittens löschen Nataliya Kudelya und ihre Co-Moderatorinnen natürlich auch rigoros alle Beiträge und blockieren Nutzerinnen, die gegen die Regeln der Gruppe verstoßen. „Zurzeit sanktionieren wir jeden Tag Mitglieder, die russische Propaganda verbreiten“, sagt sie. „Erst schalte ich sie ein paar Tage lang stumm und hoffe, dass sie sich beruhigen. Wer wiederholt auffällt, wird entfernt.“ Das macht sie nicht nur, weil es sie persönlich betrifft, sondern weil sie nicht möchte, dass Facebook ihre Gruppe sperrt. „Wir haben so lange für unseren Raum gearbeitet, radikale Stimmen machen uns angreifbar.“ Dies gelte nicht nur für die, die russische Propaganda verbreiteten, sondern auch für die, die aufgrund der Nationalität Mitglieder beleidigten, das heißt auch Ukrainerinnen würden stummgeschaltet, wenn sie Russinnen angreifen würden, nur weil sie aus Russland kämen.

150.000 Posts von Krankenversicherung bis Kindermode

Die Facebook-Gruppe „Russischsprachige Mütter in Deutschland“ gibt es im Juni 2022 genau sieben Jahre. Pro Tag erscheinen zwischen 30 und 60 Beiträge. Das macht, grob gerechnet, etwa 120.000 Posts über Krankenversicherungen und Erziehungsmethoden, das deutsche Bildungssystem und Kindermode, über das Arbeitsamt, Haustiere und Rezepte, also das ganze ganz normale Leben. „Ich nutze die Gruppe als eine Art Suchmaschine“, sagt Iryna; nur dass nicht das ganze Web mit seinen Milliarden Seiten durchsucht wird, sondern der Wissens- und Erfahrungsschatz von gut 33.000 Frauen. „Mittlerweile“, sagt Iryna, „gebe ich mehr Antworten, als dass ich Fragen stelle.“

Sie formuliert es nicht so, aber vielleicht heißt das ja: Ich bin jetzt da!

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