Seit 50 Jahren wird am Dr. Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie (IKP) an der Wirkung von Arzneimitteln geforscht. Die am IKP entwickelten personalisierten Therapien retten schon heute Leben – und werden die Medizin noch weiter revolutionieren.
Dr. Kerstin Bühl, Fachärztin für Innere Medizin mit Schwerpunkt Geriatrie am Robert Bosch Krankenhaus (RBK), hatte sofort einen konkreten Verdacht, als sie auf die Patientin Ilse Berger (Name von der Redaktion geändert) traf. Die 88-jährige Frau kam mit einer Oberschenkelhalsfraktur in die Klinik und nahm 13 verschiedene Medikamente ein, gegen Herzschwäche, Diabetes, Bluthochdruck und Vorhofflimmern, außerdem Schmerzmittel gegen Osteoarthrose, Antidepressiva und ein cholesterinsenkendes Statin. Am RBK ist es Standardvorgehen, dass bei älteren mehrfacherkrankten Patient:innen mit einer Fraktur frühzeitig geriatrische Fachexpert:innen hinzugezogen werden. „Wenn so viele Medikamente gleichzeitig eingenommen werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu unerwünschten Wechselwirkungen mit klinischen Symptomen kommt“, erklärt die Ärztin. Im Patientengespräch erfuhr Kerstin Bühl darüber hinaus, dass Frau Berger nicht nur Schmerzen aufgrund der Fraktur hatte, sondern auch noch Muskelschmerzen im gesamten Körper. „Die Muskelschmerzen der Patientin legten nahe, dass ein Problem mit dem Statin vorlag.“
Zum Glück für Frau Berger ist kein Krankenhaus so gut auf solche Situationen vorbereitet wie das RBK in Stuttgart auf dem Bosch Health Campus.
Besteht ein Verdacht auf erbliche Ursachen für Arzneimittelnebenwirkungen, wird am RBK nach der Aufnahme einer Patient:in das Erbmaterial analysiert. Eingeführt wurde die Praxis des DNA-Checks vor einigen Jahren in Kooperation mit dem Dr. Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie (IKP). „In der Medikation gilt noch immer das Prinzip ‚one size fits all‘: Ein Arzneimittel wird für alle Menschen, die an einer gewissen Krankheit leiden, verschrieben“, sagt der IKP-Leiter Prof. Dr. Matthias Schwab, „aber aufgrund ihrer diversen genetischen Ausstattung reagieren Menschen ganz unterschiedlich auf Medikamente. Bei gewissen erblichen Dispositionen können Medikamente stärker oder schwächer wirken – oder schwerwiegende Nebenwirkungen auslösen.“ Am RBK wird das Genom von Patient:innen auf zahlreiche Genvarianten untersucht, die Einfluss auf über 35 häufig verwendete Medikamente haben. Diese kritischen Informationen erhalten die Patient:innen in einer „Medikamentenpass“-App, die ein Leben lang gültig ist und nach den höchsten Standards des Datenschutzes konzipiert wurde.
In einer viel beachteten Studie konnten die Forschenden des IKP in Kooperation mit einem internationalen Team Anfang 2023 zeigen, dass sich durch den Medikamentenpass die Nebenwirkungen bei Patient:innen um circa 30 Prozent reduzieren lassen.
Das Dr. Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie (IKP) forscht auf dem Bosch Health Campus an der Verbesserung der Arzneimitteltherapie. Es gilt als die größte wissenschaftliche Forschungseinheit auf dem Gebiet der Klinischen Pharmakologie in Deutschland und genießt international hohes Ansehen.
Der Medikamentenpass ist ein gutes Beispiel für die Arbeit und die Mission des IKP. Gegründet wurde die Einrichtung 1973, vor genau 50 Jahren, durch eine Spende von Dr. Margarete Fischer-Bosch, der ältesten Tochter von Robert Bosch. Damals arbeiteten vier Mitarbeiter:innen im Haus, heute sind es circa 70, darunter vorwiegend Expert:innen aus den Bereichen Medizin, Genomik, Metabolimus und Bioinformatik. „In der Klinischen Pharmakologie geht es neben der Neuentwicklung von Medikamenten vor allem auch darum zu untersuchen, wie der menschliche Körper – oder auch Tumore – auf schon etablierte Substanzen reagiert“, sagt Matthias Schwab, der das Institut seit 2007 leitet, „hier gibt es sehr viel mehr Varianz als gemeinhin bekannt ist.“
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts konzentriert sich die Forschung am IKP verstärkt auf das Feld der Pharmakogenomik. Diese Disziplin hat im Institut eine lange Tradition. Schon im Jahr 1975 identifizierte Prof. Dr. Dr. h.c. Michel Eichelbaum, der damalige Leiter des IKP, den sogenannten CYP2D6-Polymorphismus. Bei etwa zehn Prozent der europäischen Bevölkerung liegt eine Genmutation vor, die beispielsweise bei Frauen bewirkt, dass Tamoxifen, ein hochwirksames Mittel gegen Brustkrebs, nicht immer wie gewünscht anschlägt. Bei diesen Patientinnen muss gegebenenfalls die Dosis angepasst oder ein Alternativmedikament eingesetzt werden, damit sie nicht erneut an Brustkrebs erkranken. Bereits frühzeitig hat das IKP dazu grundlegende Forschungsarbeiten vorgelegt. Gerade forscht man an einem Medikament, das die Anwendung von Tamoxifen für die betroffenen Frauen doch ermöglicht. Bis zur Marktreife werden jedoch noch einige Jahre vergehen.
Im Zentrum der Forschungsarbeit am IKP stehen Genomanalysen, die mit Sequenziermaschinen vorgenommen werden und die Ergebnisse als Datei ausgeben: Aus den endlosen Zahlenreihen und Buchstabenkürzeln können die Forschenden die genetische Disposition der Patient:innen ablesen – und eine entsprechende Medikation empfehlen. Eine Genanalyse kann heute innerhalb weniger Tage erstellt werden. Ein Schwerpunkt am IKP ist auch die Pharmakotherapie in der Onkologie. „Je mehr wir über das Genom eines erkrankten Menschen und das Genom des Tumors wissen, umso gezielter können wir behandeln“, erklärt IKP-Chef Matthias Schwab. Die kurzen Wege auf dem Bosch Health Campus erleichtern dieses Vorgehen sehr. Am Robert Bosch Krankenhaus fallen im Rahmen von Routinemaßnahmen, zum Beispiel einer Krebsoperation, Gewebeproben von Patient:innen an, die nach erfolgter Information und Einwilligung der Patient:innen dann am IKP analysiert werden. „Zum Teil gelingt es uns, mit Therapien, die auf das individuelle Genom von Patient und Tumor zugeschnitten sind, aus Krebs eine chronische, aber nicht mehr akut lebensgefährliche Erkrankung zu machen“, so Schwab.
Mit dieser Art der personalisierten Medizin haben sich vor allem im Bereich des Lungenkrebses die Therapiemöglichkeiten dramatisch verbessert. Das höchste Anliegen des IKP ist dabei die Translation – also eine schnelle Übertragung der jüngsten Forschungsergebnisse auf die jeweiligen Fälle der Patient:innen. Matthias Schwab ist sich aber bewusst, dass man vor allem bei Krebserkrankungen vielen Patient:innen immer noch nicht oder nur bedingt helfen kann.
Auch deshalb ist die Devise am IKP heute noch dieselbe wie vor 50 Jahren: forschen, forschen und forschen, um die Medikamente schneller zu entwickeln und erfolgreicher zu machen. „Nur weniger als zehn Prozent der Wirkstoffe, die in klinischen Studien getestet werden, gelangen zur Marktreife“, sagt Prof. Dr. Volker Lauschke, der am RBK die Forschungsgruppe „Mikrophysiologische Gewebemodelle“ leitet. Tierversuche produzieren viele falsch-negative oder falsch-positive Signale. „Eine Rattenleber unterscheidet sich nun mal stark von dem Organ eines Menschen, der sich über einen längeren Zeitraum zu fett ernährt und dazu beispielsweise noch Bluthochdruck und Diabetes entwickelt hat“, sagt Volker Lauschke. Seine Forschungsgruppe erstellt deshalb aus menschlichen Leberzellen, die erkrankten Personen durch eine Biopsie entnommen wurden, in Nährlösung dreidimensionale Zellaggregate – sogenannte Sphäroide. „Diese Zellkugeln liefern realistischere Testergebnisse“, so Lauschke, „weil sie die Lebensgeschichte eines Menschen in sich tragen und die Zellinteraktionen in echten Organen besser imitieren.“
Die bis zu 200 Mikrometer großen Sphäroide werden von den Forschenden mit einer feinen Pipette in 96 Vertiefungen eines Tabletts platziert – dann kann jede „Minileber“ in einem speziellen Apparat mit einer anderen Substanz konfrontiert und das Ergebnis analysiert werden. „Weil wir ein Tablett in wenigen Minuten befüllen können, ist es möglich, in enorm kurzer Zeit auch 10.000 verschiedene Moleküle zu testen“, sagt Lauschke.
Ein großes Projekt am IKP konzentriert sich aktuell darauf, vielversprechende Moleküle für ein Medikament gegen entzündliche Fettleber zu finden. In den Industriestaaten leiden 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung an dieser Erkrankung, gegen die es bislang kein wirksames Medikament gibt. Über das chemogenomische Screening mit Sphäroiden ist es am IKP gelungen, eine vielversprechende Wirkstoffgruppe zu identifizieren. Der nächste Schritt ist laut Lauschke, die Entwicklung entsprechender Medikamentenmoleküle weiterzutreiben, um dem pH-Wert im Magen standzuhalten.
„In den letzten zehn Jahren haben wir bei 3-D-Zellmodellen enorme Fortschritte gemacht“, sagt Lauschke. Während der Pandemie konnte so die Wirksamkeit eines Wirkstoffs identifiziert werden, der die Sterblichkeit bei Patient:innen tatsächlich um 25 Prozent senkte und heute als Medikament im Einsatz ist. „Aufgrund der Pandemie konnten wir schnell ins Feld gehen“, erklärt Lauschke und hofft, „dass solche erfolgreichen Case Studies dazu führen, dass Ergebnisse aus 3-D-Zelltests von Regulatoren schneller anerkannt und in klinischen Studien, den ersten Untersuchungen einer neuen Substanz beim Menschen, überprüft werden können.“
Denn die Herausforderung ist, die Technologie nicht nur zu entwickeln und zu perfektionieren. Notwendig sind auch gesellschaftliche Akzeptanz und die Einbindung ins Gesundheitssystem.
Das gilt natürlich auch für den Medikamentenpass, der bisher in Deutschland nur am Robert Bosch Krankenhaus Standard ist und von dem sich IKP-Direktor Matthias Schwab wünschen würde, dass er sich bald bundesweit durchsetzt. Da die Daten einzig bei den Patient:innen in der App liegen und nicht zentral gespeichert werden, wäre auch keine mühsame und kleinteilige Datenschutzdebatte zu erwarten. Die Versorgung von Patient:innen mit den für sie geeigneten Medikamenten würde sich dadurch verbessern. Denn schließlich liegen nicht nur im Robert Bosch Krankenhaus Patient:innen, die nach heutigem Stand maßgeschneidert behandelt werden könnten. Oder aber: auch mit weniger Medikamenten.
Denn genau darauf lief es im Fall der geriatrischen Patientin Ilse Berger hinaus. „Statine sind hochwirksame Medikamente, die etwa Herzerkrankungen oder einem Schlaganfall vorbeugen“, sagt Schwab. „Bei manchen Menschen ist jedoch aufgrund ihrer genetischen Disposition die Funktionsweise eines Transportproteins beeinträchtigt. Menschen mit dieser Mutation haben ein enorm hohes Risiko, dass bestimmte Statine zu einem krank- und schmerzhaften Muskelabbau führen.“
Deswegen ist eine Analyse des Medikationsplans wichtig, wozu man in Fällen wie dem vorliegenden die Expertise von Fachärzt:innen für Arzneimitteltherapie, sogenannte Klinische Pharmakolog:innen, hinzuzieht. Dies ist deswegen unmittelbar möglich, da sich auch das Dr. Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie auf dem Bosch Health Campus befindet – ein Alleinstellungsmerkmal des RBK.
Die erhöhten Muskelenzym-Werte in Ilse Bergers Blut hatten den Verdacht bei der geriatrischen Fachärztin Kerstin Bühl geweckt –der gemeinsame Blick mit Schwab auf Bergers genetischen Befund bestätigte dies. Was tun? Denn Statine kann man nicht einfach absetzen. „Die Statinmedikation ist in Therapieleitlinien geregelt, die für die Behandelnden auch bindend sind“, erklärt die Fachärztin Bühl. Aber hier kommen wieder die kurzen Wege auf dem Bosch Health Campus zum Tragen. In Kooperation mit der Klinischen Pharmakologie am IKP können die RBK-Ärzt:innen eine Anpassung der Statintherapie vornehmen und einen Arzneistoff auswählen, der trotz der vorliegenden Genveränderung risikolos eingesetzt werden kann. Darüber hinaus sorgte die Analyse des Medikationsplans und des Erbguts dazu, dass bei Frau Berger die Anzahl der verordneten Medikamente von 13 auf 9 reduziert werden konnte. Beim Blick auf die Liste der Medikamente, die Frau Berger jeden Tag einnahm, bemerkte Matthias Schwab, dass ein Schmerzmittel teilweise die Wirkung der Blutdrucksenker aufhob. Gerade bei geriatrischen Patient:innen ist diese Form der Wechselwirkung ernst zu nehmen. Nicht immer wird die komplexe gegenseitige Beeinflussung der Arzneimittel mit möglichen klinischen Konsequenzen von behandelnden Ärzt:innen richtig eingeschätzt. Für den Klinischen Pharmakologen Schwab gehört dieses Wissen zum täglichen Geschäft. Ein alternatives Schmerzmittel half im Fall von Frau Berger, den Blutdruck dauerhaft in den Griff zu bekommen. Wie viele geriatrische Patient:innen wird auch Ilse Berger nicht vollständig von ihren Beschwerden genesen. Aber nun hat sie die denkbar beste Arzneimitteltherapie – sie ist so individuell wie Frau Berger selbst.