Vergangenheitsbewältigung in Ruanda: Der Weg der Vergebung

Vor 24 Jahren starben bis zu einer Million Tutsi und moderate Hutu beim Völkermord in Ruanda. Im Dorf Mbyo leben Täter und Opfer heute als Nachbarn.

Linda Tutmann | Juli 2018
Kraftvoll: Jaqueline hat den Völkermord in Ruanda überlebt.
Jacques Nkinzingabo

Kraftvoll: Jaqueline hat den Völkermord in Ruanda überlebt. 

Der Tag, an dem die Mörder kamen, um die Familie von Jaqueline mit wenigen Machetenhieben zu töten, war sonnig. Es hatte am Vortag geregnet und die rötliche Erde in einen schlammigen Morast verwandelt, doch als sich das Mädchen aufmachte, um Milch von den Kühen zu holen, war der Himmel fast wolkenlos. Mühsam balancierte sie den Krug voll mit der weißen Kostbarkeit über die schmalen Pfade. Der Mais stand in diesem Monat hoch, sie sollte erst später erfahren, dass die breiten Blätter der Pflanzen manchen ihrer Freunde Schutz vor den Angreifern boten. Ihrer Familie konnte der Mais nicht helfen. Als sie wieder zurückkam, mit der Kanne voll mit Milch, fand Jaqueline die leblosen Körper. Sie hatten keine Chance.

Der Völkermord in Ruanda zählt zu den grausamsten der jüngeren Geschichte Afrikas. In dem kleinen, mitten im Kontinent gelegenen Land, das nur etwas größer ist als Belgien, ermordeten radikale Hutu zwischen 800 000 und eine Million Tutsi und moderate Hutu. Der Ursprung des Konflikts reicht in die Kolonialgeschichte Ruandas zurück. Die ursprünglich sozialen Gruppen der Hutu und Tutsi wurden von den Kolonialherren zu Rassen uminterpretiert. Nach der Unabhängigkeit instrumentalisierte die Regierung diese Unterscheidung und wiegelte die Mehrheit der Hutu gegen die Minderheit der Tutsi auf. Die staatliche Propaganda verschärfte die Lage über den Radiosender „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“. Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana, selbst ein Hutu, abgeschossen. Dies nahmen radikale Hutu als Vorwand, um den offensichtlich geplanten Völkermord zu beginnen – bereits eine halbe Stunde nach dem Flugzeugabsturz mordeten Milizen in der Hauptstadt.

24 Jahre später sitzt Jaqueline auf einem Sofa in ihrem kleinen Haus, in dem sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt. Drei Zimmer, zum Schlafen, Wohnen und Kochen, ein Wellblechdach über dem Kopf, Steinfußboden unter den Füßen. Hier in der Region Burgesera, eine Stunde von der Hauptstadt Kigali entfernt, lebte sie auch früher mit ihrer Familie.

Vier Tage lang liefen sie, versteckten sich hinter Büschen

„Ich war sicher, dass ich jetzt auch sterben muss“, sagt Jaqueline über diesen Morgen im April 1994. Sie rannte in ihrer Panik zur katholischen Kirche, in der auch andere Tutsi sich in ihrer Angst zusammendrängten. Dort traf sie ihren Onkel. Auch er hatte Glück gehabt. Zusammen schlugen sie sich nach Burundi durch, vier Tage lang liefen sie, versteckten sich hinter Büschen, sie tranken das Wasser aus den Pfützen und aßen Körner, die sie auf dem Weg aufsammelten. „Als wir in Burundi ankamen, waren wir keine Menschen mehr“, sagt sie. Vor ihr auf dem Tisch liegt bunter Bast, konzentriert flicht sie die strohigen Schnüre zu einem bunten Untersetzer zusammen, den sie draußen auf dem kleinen Versammlungsplatz des Dorfes an Besucher verkauft.

In wöchentlichen Gesprächsrunden kommen die Dorfbewohner zusammen – Opfer und Täter.
Jacques Nkinzingabo

In wöchentlichen Gesprächsrunden kommen die Dorfbewohner zusammen – Opfer und Täter.

Die Idee eines revolutionären jungen Priesters

Mbyo heißt das weit über die Grenzen Ruandas bekannte Dorf, das seine Bekanntheit einer Besonderheit verdankt, die während seiner Entstehung unglaublich war: ein Dorf, in dem Hutu und Tutsi, Täter und Familien der Opfer wie Jaqueline, Tür an Tür leben. Das Dorf ist die revolutionäre Idee eines jungen Priesters, selbst ein überlebender Tutsi. „Wie sollen wir in diesem Land jemals wieder glücklich werden?“, fragte er sich und wusste: Ohne Verzeihen würde es nicht gehen. Er ging in ein Gefängnis und stellte sich mit zitternden Knien vor die Männer, die auch Mitglieder seiner Familie umgebracht hatten. Hutu, die mittlerweile von der neuen Regierung für ihre Taten verurteilt worden waren. Als er sich an die Situation erinnert, berichtet er von den Zurufen der Gefangenen, die ihm entgegenhallten: 
„Warum ist er noch am Leben?“, riefen sie. 
„Er ist ein Tutsi! Wir sollten ihn umbringen.“
„Ich komme nicht, um euch anzuklagen“, rief der Priester. 
„Lasst ihn reden“, sagten sie dann.
„Danach können wir ihn immer noch umbringen.“
 

Dieser Mann ist Bischof Deogratias Gashagaza, er nennt sich selbst: Bishop Deo. Er wollte diese Männer verändern. Alle zwei Wochen ging er ins Gefängnis und sprach mit den Männern über ihre Taten, über Gott, seinen Glauben und las mit ihnen die Bibel. „Ich habe sie als Menschen gesehen, nicht als Tiere“, sagt er. „Sie haben gelernt, mir zu vertrauen.“ Was passiert mit den Tätern, wenn sie aus dem Gefängnis rauskommen?, fragte sich der Geistliche damals. Flammt der Hass in ihnen wieder auf? 

Fotos an der Wand eines Dorfbewohners
Jacques Nkinzingabo

Erinnerungsstücke: Ein Dorfbewohner hat eine Wand in seinem Haus mit Fotos und Zeichnungen gestaltet.

Er wollte einen Ort schaffen, an dem Hutu und Tutsi sich die Hand reichen. Einen Ort der Versöhnung. 54 Familien leben mittlerweile in Mbyo, Tutsi und Hutu. Es gibt eine Schule, Kinder spielen, abends sitzen sie zusammen und singen ruandische Volkslieder. Auf den Feldern des Dorfes wachsen wieder Mais und Weizen. Alles wirkt ruhig. Vielleicht ist es auch zu ruhig, gespenstisch still. Fragt man die Bewohner danach, ob sie Tutsi oder Hutu sind, kommt schnell, fast mechanisch: „Wir sind Ruander“, ob Tutsi oder Hutu spiele keine Rolle mehr. 

Ohne Wissen gibt es keine Vergebung

Als das Dorf vor 15 Jahren entstand, konnten die Bewohner noch nicht einmal zusammensitzen, erzählt Deo. Das Misstrauen, die Angst auf beiden Seiten waren viel zu groß. Viele hatten während des Genozids alles verloren. Zusammen mit Psychologen betreute Deo die Familien, deren Angehörige beim Genozid umgebracht worden waren – und die Täter, die aus dem Gefängnis zurückkamen. Gemeinsam bauten sie die Häuser von Mbyo wieder auf. Die Arbeit, sagt Deo, etwas gemeinsam zu schaffen, war wichtig. Die Bewohner führen zudem am Wochenende aktive Gesprächsrunden, es gibt einen Fußballverein, wo Kinder und Erwachsene spielen, die Felder werden gemeinsam bestellt. Aber vor allem: Es wird das Schweigen gebrochen. „Ohne Wissen gibt es keine Vergebung“, sagt er. 

Wie gelingt ein Leben neben und mit den Tätern?

Jaqueline traf zehn Jahre später den Mann, der ihre Familie getötet hat. Er ist ein Mörder, dachte sie, als der Mann vor ihr stand. Ein Hutu, der alle Tutsi hasst. Würde er die Gelegenheit nutzen und sie umbringen? Vergib ihm, hatte ihr ein Priester gesagt, denn auch dir werden deine Sünden im Himmel vergeben. Der Mann fiel vor ihr auf die Knie, presste sein Gesicht in den Staub. Sie hatte Angst. Und sagte dann doch: „Ja, ich verzeihe dir.“ „Das Leben muss weitergehen“, sagt sie heute. „Versöhnung ist ein Prozess.“

Das Leben muss weitergehen. Versöhnung ist ein Prozess.

Sie redet jetzt flüssig, es ist nicht das erste Mal, dass sie ihre Geschichte Fremden erzählt. Mbyo wird oft als Vorzeigeprojekt von ausländischen Journalisten und Wissenschaftlern besucht, die hier beobachten möchten, wie die Versöhnung, das Zusammenleben von Hutu und Tutsi funktioniert. „Wir verstehen uns“, ist ihre Antwort, wenn man sie danach fragt, wie das Unvorstellbare im Alltag gelingt: ein Leben neben und mit den Tätern. 

Frederic ist inzwischen der Bürgermeister des Dorfes Mbyo. Er spricht nun für alle, die dort leben.
Jacques Nkinzingabo

Frederic ist inzwischen der Bürgermeister des Dorfes Mbyo. Er spricht nun für alle, die dort leben.

Auch Frederic, einer der vielen Täter, stand vor einem lokalen Gericht und bat um Verzeihung. Er ist ein kleiner Mann mit kompakter Statur, der ein paar Häuser von Jaqueline entfernt wohnt. Er erzählt mit monotoner Stimme von dem Tag, als er loszog, zusammen mit anderen radikalen Hutu. Wie sie die Straßen blockierten, um die fliehenden Tutsi aufzuhalten. Wie er Menschen tötete. „Es war ein Befehl“, sagt er. „Hätte ich mich geweigert, hätten sie mich auch umgebracht.“ Acht Jahre saß er im Gefängnis. Doch seine Vergangenheit lässt Frederic nicht los. Oft schreckt er auf, sein Herz klopft, wenn er an die Tage im April 1994 denkt. Er kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen, das weiß er. Aber er kann leben, auch für die Versöhnung. Für ein neues Ruanda. 

24 Jahre nach dem Genozid: Versöhnungsarbeit ist noch immer wichtig

Fast ein Vierteljahrhundert später zählt Ruanda zu den Vorzeigestaaten des Kontinents. Präsident Paul Kagame hat den Staat wirtschaftlich vorangebracht und auch für die Versöhnung setzt er sich ein. So sehr, dass manche auch von einem Zwang, einer „Diktatur der Versöhnung“ sprechen. Kagame führt das Land mit strenger Hand, von einer Demokratie ist Ruanda weit entfernt. Manche Familien der Opfer wissen bis heute nicht, wie ihre Verwandten gestorben sind und wer die Täter waren. Bischof Deo weiß, dass seine Arbeit auch 24 Jahre nach dem Genozid nicht vorbei ist. 

Die Kinder des Dorfes wachsen in einem neuem Ruanda auf, in dem die Menschen sagen, sie seien Ruander, nicht Hutu oder Tutsi.
Jacques Nkinzingabo

Die Kinder des Dorfes wachsen in einem neuem Ruanda auf, in dem die Menschen sagen, sie seien Ruander, nicht Hutu oder Tutsi. 

Jaqueline und Frederic sind heute Nachbarn, sie vertrauen einander. Ab und an spielen Jaquelines Kinder bei Frederic im Hof. Wenn ihre Kuh einmal keine Milch gibt, kann sie ihn um Hilfe fragen. Das Dorf wählte Frederic zum Anführer, zum Bürgermeister von Mbyo. Er ist es, der heute für alle spricht, der Streit schlichtet und für Probleme eine Lösung sucht. Und der dafür sorgt, dass die alten Wunden nicht mehr neu aufbrechen.

Das Magazin "Afrika" (02/2018)

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