"Technologie kann sowohl Segen als auch Fluch sein"

Regierungen und Unternehmen sammeln unzählige Informationen über uns und unsere Internetnutzung. Rechtfertigen die darin liegenden Chancen die Eingriffe in unsere Privatsphäre? Beim Dialogforum "Global Governance Futures" entwerfen internationale Nachwuchsführungskräfte Zukunftsszenarien und diskutieren über die ethische Nutzung neuer Technologien.

Robert Bosch Stiftung | Februar 2017
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Foto: Ralph Alswang

Im Programm Global Governance Futures treffen 25 Nachwuchsführungskräfte aus unterschiedlichen Fachgebieten und fünf Nationen aufeinander. Gemeinsam erarbeiten sie im Verlauf eines Jahres Szenarien für die Welt von morgen. Wir haben mit den beiden GGF-Fellows Cathleen Berger und Reirui Ri in Neu Delhi über das Thema ihrer Arbeitsgruppe gesprochen: "Data Governance". In dieser Arbeitsgruppe blicken sie zehn Jahre in die Zukunft und erarbeiten Szenarien für den Umgang mit der zunehmenden Digitalisierung.

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Foto: Ralph Alswang

Cathleen Berger ist Beraterin und Politikexpertin mit Schwerpunkt auf Internetfreiheit, Menschenrechte und Außenpolitik im digitalen Zeitalter. Sie arbeitete unter anderem bereits für das Auswärtige Amt und die Stiftung Wissenschaft und Politik. Zurzeit ist sie für Mozilla tätig.

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Foto: Ralph Alswang

Reirui Ri arbeitete bereits für Google Asia-Pacific, Google Japan und die Boston Consulting Group. Zurzeit ist sie Fellow des Stanford Program in International Legal Studies an der Stanford Law School.

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Big Data wird auch als das "neue Öl" bezeichnet - richtig aufbereitet, haben große Datenmengen einen beträchtlichen Wert und verleihen ihrem Inhaber Macht. Welche Gefahren entstehen, wenn Regierungen, Unternehmen und kriminelle Netzwerke aus derselben Quelle schöpfen?

Cathleen Berger: Ich mache mir keine Sorgen wegen Big Data - es kommt darauf an, wie man das Thema betrachtet. Big Data anonymisiert und ermöglicht eine umfassendere Sicht auf soziale, ökologische oder politische Aspekte. Big Data kann für viele gute Zwecke genutzt werden: Beispielsweise sehe ich jede Menge Chancen und technologische Entwicklungen in den Bereichen Krisenmanagement, Klimawandel, Smart Cities und deren Kampf gegen Verschmutzung sowie im Bereich der Gesundheitsdatenanalyse. Was mir hingegen Sorgen bereitet, sind ein Mangel an notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, die Zentralisierung von Daten sowie insgesamt die Folgen für den Einzelnen. Ich hoffe stark, dass Datenbanken getrennt voneinander gehalten und personenbezogene Daten so weit wie möglich vertraulich behandelt werden.


Als ein möglicher Einsatzbereich von Big Data regt "Predictive Policing" die Phantasie vieler Menschen besonders an und ruft Bilder wach, wie wir sie aus dem Science-Fiction-Thriller Minority Report kennen. Was genau muss man sich unter "Predictive Policing" vorstellen und was sind die Vor- und Nachteile?

Berger: Vor allem US-amerikanische Strafverfolgungsbehörden sind dabei, Algorithmen zu entwickeln, um vorherzusagen, ob eine bestimmte Gegend stärker von Kriminalität betroffen sein wird. Vereinfacht gesagt, geht es darum, mithilfe eines Algorithmus Verbrechen zu verhindern, bevor sie begangen werden. Ich halte das für sehr bedenklich, denn in die Entwicklung des Algorithmus können viele diskriminierende Aspekte einfließen lassen - letztlich lebt ein Algorithmus von den Daten, mit denen er gefüttert wird. Wenn beispielsweise im Bereich der Polizeiarbeit schon die Daten diskriminierend sind, wird das von der Technologie reproduziert. Aus menschenrechtlicher Perspektive finde ich das äußerst bedenklich. Dennoch würde ich dieses Thema strikt von Big Data an sich trennen wollen, denn der Fehler liegt hier nicht in den Daten selbst, sondern in deren Auslegung. In Europa wird Predictive Police derzeit noch nirgendwo angewandt. Einige Strafverfolgungsbehörden drängen jedoch trotz erheblicher menschenrechtlicher Bedenken darauf.


Die jüngsten US-Präsidentschaftswahlen haben gezeigt, wie anfällig Gesellschaften für Cyberattacken sind. Viele Regierungen versuchen nun, diese Sicherheitslücken zu schließen. Sind damit irgendwelche Risiken verbunden?

Berger: Das größte Problem ist, dass viele Regierungen derzeit dabei sind, sich abzuschotten. Aus Sicht von "Data Governance" stellt dies eine große Bedrohung für die globale öffentliche Ressource Internet dar. Sobald Regierungen anfangen, nationale Maßnahmen zu ergreifen und Rechtsrahmen zu schaffen oder ihre Grenzen zu schließen, stehen wir vor einer massiven Bedrohung des Internets in der Form, wie wir es heute kennen.

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Foto: Eka RostomashviliBesides data governance the fellows of Global Governance Futures focus on global health and transnational terrorism.

"Technologie ist eine neutrale Kraft"


Können Sie uns noch andere Aspekte von "Data Governance" nennen, über die Sie in Ihrer Arbeitsgruppe sprechen und die derzeit nicht in den Schlagzeilen stehen?

Berger: In meiner Arbeit befasse ich mich mit dem Problem des Zugangs zum Internet, sei es aufgrund mangelnder Infrastruktur, technischer Geräte oder derKompetenzen, diese zu nutzen. Es gibt zahlreiche politische Absichtserklärungen, einer weiteren Milliarde Menschen den Zugang zum Internet zu ermöglichen, doch häufig sind es vor allem private Akteure, die entsprechend handeln. Unter bestimmten Bedingungen kann dies zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit führen, da ein wirtschaftliches Interesse daran besteht, den Zugang zu bestimmten Diensten zu beschränken. So stehen viele Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern vor dem Problem, dass Inhalte in ihren Sprachen einfach nicht verfügbar sind. Was dem aktuellen Diskurs aus meiner Sicht fehlt, ist der ernsthafte Versuch, das Internet inklusiv zu gestalten - und nicht nur darüber zu sprechen.

Reirui Ri: Was auch fehlt, ist eine tiefgehende Debatte über Verbraucherfreiheit und Dateneigentum sowie darüber, welche Instrumente und Mechanismen wir einsetzen können, um beides zu erreichen. Ein weiteres Thema, das mir einfällt, sind Selbstregulierungsstandards von Unternehmen. Die Medien berichten häufig darüber, ob Internetriesen bestimmte Dinge löschen, doch was meinen wir mit "löschen" - auf lokaler oder auf globaler Ebene? Und warum entfernen Unternehmen zwar Bilder, die gegen Urheberrechte verstoßen, aber keine personenbezogenen Daten? Solche Standards für die Rechtsdurchsetzung gegenüber Unternehmen sind fundamental für den Verbraucher und die Schaffung von Regeln für das Internet, kommen jedoch nicht in die Schlagzeilen.


Bitte nennen Sie uns einige der Faktoren, die Ihre Arbeitsgruppe bei der Ausarbeitung von Szenarien für die kommenden zehn Jahre des digitalen Zeitalters berücksichtigt.

Ri: Ein Thema, mit dem sich unsere Gruppe beschäftigt, ist, wie Regierungen kontinuierlich ihre Befugnisse im Bereich der Regulierung und Rechtsdurchsetzung verlieren und Internet-Regeln somit faktisch wirkungslos werden. Letztlich geben sie dadurch nicht nur als Akteure, sondern auch innerhalb der Debatte zur "Internet Governance" immer mehr Einfluss auf. Ein weiterer Trend ist das Aufkommen eines neuen Bürgertyps, der nächsten Generation von Menschen, die online gehen. Diese Generation wird sowohl ihre politischen als auch wirtschaftlichen Bedürfnisse stärker zum Ausdruck bringen, und in unserer Arbeitsgruppe stellen wir fest, dass Internetdienste sich verändern, um sich darauf einzustellen.

Berger: Für uns ist bei der Ausarbeitung von Szenarien besonders wichtig, dass Technologie als neutrale Macht immer in zwei Richtungen gehen kann. Sie kann Menschen entweder in die Lage versetzen, die Kontrolle über ihre Daten wiederzuerlangen, oder ihnen die Kontrolle entziehen und sie Kräften unterwerfen, die stärker sind als sie selbst. Kurzum: Der ethische Aspekt des Einsatzes von Technologie ist ein enorm wichtiger Faktor. Ein weiterer Aspekt, mit dem wir uns beschäftigen, ist die datengetriebene Wertschöpfung oder "Data Economy". Mangels staatlicher Instrumente zur Rechtsdurchsetzung haben wir Schwierigkeiten, Investitionen und Marktwachstum zu kontrollieren, da Unternehmen schneller handeln können als das vorherrschende Regelwerk. Wie man das handhabt und zukünftig handhaben wird, ist eine gewaltige Herausforderung, die unser Szenario maßgeblich beeinflusst.

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Foto: Eka RostomashviliDuring the Dialogue Session in India the fellows also took time to explore New Delhi.

Regionale Harmonisierung und kulturelle Unterschiede


Aktuell ist die Datenschutzgesetzgebung noch stark fragmentiert. Inzwischen gibt es jedoch auch Versuche, die nationalen Datenschutzgesetze zu harmonisieren, z. B. die Datenschutz-Grundverordnung der EU. Ist eine solche regionale Harmonisierung überhaupt sinnvoll oder brauchen wir ein neues globales Abkommen zum Schutz der Privatsphäre gegen den potenziellen Missbrauch von Big Data?

Berger: Ich fände es sehr schön, wenn der Datenschutz überall gewahrt werden würden, denn tatsächlich ist er Teil der internationalen Menschenrechte. Ich glaube jedoch nicht, dass es möglich ist, das Recht auf Datenschutz international durchzusetzen. Elemente wie die Datenschutz-Grundverordnung sind fantastische Entwicklungen, und ich ziehe sie häufig als Beispiel für eine vorbildliche Praxis voran, um in anderen Regionen für einen regulatorischen Wandel zu werben. Die Afrikanische Union etwa prüft derzeit ähnliche Maßnahmen, und ich bin froh, dass mit der Datenschutz-Grundverordnung bereits etwas vorliegt, das als Inspiration dienen kann.


Haben Sie im Rahmen Ihrer Diskussionen und der Szenarioplanung irgendwelche kulturellen Unterschiede in den regionalen Perspektiven auf "Data Governance" festgestellt?

Ri: Ich denke, bei uns in den asiatischen Ländern ist man sich bewusst, dass wir in den Bereichen Internetmärkte und -technologie zu den Entwicklungsländern gehören. Deshalb haben wir aus meiner Sicht auch eine ganz andere Vorstellung von Datenschutz und davon, wie Internetregulierung aussehen sollte. In einigen asiatischen Ländern gibt es im Vergleich zur EU deutlich mehr Spielraum für Innovation und den Umgang mit Daten.

Verschiedene Blickwinkel


Sie beide sind schon Experten für "Data Governance". Welche neuen Impulse konnten Sie aus den GGF-Sessions für sich mitnehmen?

Ri: Was mich enorm bereichert hat, ist die Perspektive von Einzelpersonen und der Zivilgesellschaft, die Cathleen vertritt. Eine weitere wichtige Erkenntnis für mich war es, zu erfahren, wie der Umgang mit dem Internet in China und Indien aussieht und wie Menschen Technologien für wirtschaftliches Wachstum nutzen, wenn die technischen Fähigkeiten und die Infrastruktur begrenzt sind.

Berger: Für mich persönlich ist es sehr hilfreich, den Blickwinkel der Unternehmen kennenzulernen, einfach um entsprechende Dynamiken besser zu verstehen. Durch meine Tätigkeit im Auswärtigen Amt lag mein Fokus immer sehr stark auf der Außenpolitik. Die nationalen Triebkräfte zu verstehen, die viele der Fellows vor allem aus der asiatischen Region in die Diskussion eingebracht haben, war sehr interessant, und ich habe sehr viel darüber gelernt, wie verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure agieren, was sie antreibt und welche Motive sie verfolgen. Die Fellows teilen ihre persönlichen Geschichten und zeigen dadurch, wie sie die Welt sehen. Das war für mich einer der wertvollsten Impulse aus den Sessions.