Muslimische Lebenswelten verstehen
Begegnen, austauschen, zusammenarbeiten: Im Umgang mit Muslim:innen stellen sich die Verantwortlichen in Städten und Gemeinden praktische Fragen: Wer steht eigentlich hinter einer örtlichen Moscheegemeinde? Und was beschäftigt die Menschen in muslimischen Vereinen? Seit zwei Jahren baut die Islamberatung in Bayern Brücken zwischen muslimischen, kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen – und setzt sich dafür ein, den Islam in Deutschland in all seinen Facetten zu zeigen.
Die Kanuni Sultan Süleyman Camii-Moschee in Nersingen/Straß, Bayern.
Am Rand eines Feldwegs ragt ein Minarett in den Himmel. Als Margarete Fischer mitten im bayerischen Nirgendwo auf die Kanuni Sultan Süleyman Camii-Moschee in Nersingen/Straß zufährt, gerät sie regelrecht ins Staunen. „So ein imposantes Bauwerk hätte ich an diesem Ort nicht erwartet“, erinnert sie sich. Es ist einer der ersten Besuche bei einer muslimischen Gemeinde, die Fischer – zu diesem Zeitpunkt frisch angetretene Integrationsbeauftragte des Landkreises Neu-Ulm – macht.
Der Grund: Sie soll ein Treffen zwischen dem Landrat und muslimischen Akteur:innen organisieren, doch in der Zusammenarbeit mit letzteren fehlt ihr bislang die Erfahrung. Um ihre Unsicherheit abzubauen, sucht sie mit allen Ditib-Gemeinden im Landkreis die direkte Begegnung. Aus ihren Kennenlerngesprächen entwickelt Margarete Fischer eine Liste vielfältiger Themen, die den muslimischen Vereinen wichtig sind. Die Idee dazu entstand im Gespräch mit der Islamberatung Bayern.
„Wir wollen zeigen, wie man auf muslimische Gemeinden zugehen kann.“
Berührungsängste abbauen, Wissen vermitteln und Menschen dazu ermutigen, aufeinander zuzugehen: Seit zwei Jahren ist die Islamberatung in Bayern, ein Projekt der Eugen-Biser-Stiftung in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung und dem Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg, als Brückenbauer zwischen muslimischen und kommunalen Akteuren im Einsatz.
„Es geht uns nicht darum, den Islam zu erklären“, sagt Ayşe Coşkun-Şahin, die gemeinsam mit Stefan Zinsmeister und Andreas Prell das Beratungstrio bildet. „Wir wollen ein Verständnis dafür schaffen, wie muslimische Gemeinden vor Ort aussehen und wie man auf sie zugehen kann.“ Denn Unsicherheiten im Umgang mit dem Islam seien noch immer weit verbreitet. „Das Thema wird in der Gesellschaft oft polarisierend behandelt und mit Extremismus verknüpft“, so Stefan Zinsmeister. „Man projiziert dieses Bild schnell auf alle muslimische Personen. Daraus entstehen Ängste, die für das Zusammenleben dramatisch sein können.“
Über die Person
Stefan Zinsmeister ist stellvertretender Vorsitzender der Eugen-Biser-Stiftung und Projektleiter der Islamberatung in Bayern. Er betreut Bildungsprojekte im interreligiösen Dialog und wirkt als Dozent bei Lehrkraftfortbildungen und Projekttagen an Schulen mit. Er glaubt daran, dass Kommunen es wagen müssen, einen Schritt auf muslimische Akteure zuzugehen.
Genau diesen Vorbehalten wirkt die Islamberatung in Bayern entgegen. In den Fokus rückt sie dabei vor allem Kommunen, denn vor Ort kann man Herausforderungen oft am besten begegnen. „Man muss sich die Frage stellen: Wer sind die Menschen, die in meiner Umgebung leben? Und wie gehe ich mit ihnen um?“, so Zinsmeister. Die muslimische Bevölkerung sei kein einheitlicher Block, sondern inhaltlich vielfältig, meint auch Coşkun-Şahin. „Wir wollen, dass das in den Kommunen auch so wahrgenommen wird“.
Konkret bedeutet das für das Team: Zuhören, beraten, recherchieren, Kontakte zu weiterführenden Stellen herstellen. Die Fragen, mit denen die Menschen zur Islamberatung kommen, sind vielfältig: Mal geht es um Unsicherheiten beim Bauantrag für eine Moschee, mal um Vorbehalte im Umgang mit muslimisch geprägten Vereinen, mal um Fragen zur Sterbebegleitung muslimischer Palliativpatienten.
Über die Person
Ayşe Coşkun-Şahin ist seit Januar 2019 Ansprechpartnerin der Eugen-Biser-Stiftung für die Islamberatung in Bayern. Davor war sie zuletzt als Referentin für Religion und Weltanschauung in der Einwanderungsgesellschaft im Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt tätig. Sie ist überzeugt davon, dass Vielfalt eine Ressource für die Gegenwart und die Zukunft sein kann.
Schulen, Familien, muslimische Organisationen: Immer mehr Menschen wenden sich an die Islamberatung
„Vieles können wir inhaltlich nicht leisten. Wenn zum Beispiel ein Paar mit Eheproblemen vor uns sitzt, hören wir zwar zu, vermitteln es dann aber an jemanden weiter, der speziell dafür ausgebildet ist“, so Coşkun-Şahin. Obwohl sich das Angebot der Islamberatung vor allem an Kommunen richtet, melden sich inzwischen immer mehr Menschen bei der Beratungsstelle: Familien, muslimische Organisationen, Lehrer:innen. „Von Kitas und Schulen bekommen wir viele Anfragen – zum Beispiel dazu, wie man mit der Vielfalt in Schulklassen und der Elternschaft umgeht“, sagt Ayşe Coşkun-Şahin.
Auch Annkristin Schwalb wandte sich in diesem Zusammenhang 2019 an die Islamberatung. Damals war sie Lehrerin an einer Münchner Grundschule, deren Anteil an Schüler:innen mit Migrationsgeschichte sehr hoch ist. Für ein Projekt wollte sie gemeinsam mit ihrer zweiten Klasse eine Moschee besuchen und war zunächst verunsichert. „Es gibt in München muslimische Gemeinden, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Ich wollte bei meiner Auswahl auf keinen Fall einen Fehler machen“, sagt sie.
Über die Person
Andreas Prell ist seit 2019 Berater in der Islamberatung in Bayern und setzt sich seit 2018 als Bildungsreferent der Eugen-Biser-Stiftung für den christlich-muslimischen Dialog ein. Zuvor war er als Bildungskoordinator für Neuzugewanderte am Landratsamt Wunsiedel im Fichtelgebirge (Oberfranken) tätig.
Um mit den Kindern bei einer passenden Moscheegemeinde zu landen, suchte sie Rat bei der Islamberatung – das Gespräch gab ihr Rückhalt. Sie erhielt nicht nur Informationen zu den Gemeinden, sondern wurde auch auf Stolpersteine hingewiesen, die sie bis dahin selbst nicht bedacht hatte. „Zum Beispiel, dass die Kinder beim Moscheebesuch ihre Schuhe ausziehen müssen“, sagt Schwalb. Auch, dass die gewählte Moschee eine ähnliche Größe und Repräsentanz haben sollte, wie die christliche Kirche und die jüdische Synagoge, die sie mit der Klasse ebenfalls besuchen wollte, habe sie aus dem Gespräch mitgenommen.
Diese Form von mehrdimensionalem Denken wird in der Islamberatung großgeschrieben. Das Beratungstrio hat einen multikonfessionellen Hintergrund: muslimisch, katholisch und evangelisch. Dazu kommen Erfahrungen aus verschiedenen Studien- und Berufsbereichen. „Das hat den Vorteil, dass wir aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf dasselbe Problem schauen können“, erklärt Andreas Prell. So leben sie jene Idealvorstellung, die sie nach außen vermitteln wollen, im Kleinen vor: Ein interkonfessioneller Kosmos, in dem Vielfalt als Ressource verstanden wird und Berührungsängste längst überwunden sind.
Ständig im Austausch, auch untereinander: Das Team der Islamberatung.
Auch für die Neu-Ulmer Integrationsbeauftragte Margarete Fischer war die Zusammenarbeit mit der Islamberatung und die anschließenden Besuche bei den Moscheegemeinden im Landkreis ein Gewinn. „In der Islamberatung habe ich einen Kompass gefunden. Ich wollte etwas über die Vereine erfahren, um meine eigenen Unsicherheiten abzubauen“, sagt sie heute. Das geplante Treffen, an dem auch die bayerische Integrationsbeauftragte Gudrun Brendel-Fischer sowie einige Bürgermeister:innen aus dem Landkreis teilnahmen, war ein voller Erfolg. Inzwischen arbeitet Margarete Fischer regelmäßig mit der Islamberatung zusammen.
Mehr über die Islamberatung
Das muslimische Bildungswerk in Erlangen
Der Islam in Deutschland ist vielseitig, findet auch Kübra Tan, Geschäftsführerin des muslimischen Bildungswerks in Erlangen. „Inzwischen gibt es Muslime der dritten Generation, die sich deutsch fühlen und ihre religiöse Identität fernab von kulturellen Einflüssen formen“, sagt sie. Es gebe jedoch kaum Möglichkeiten für junge Erwachsene, diese Form der hybriden Identität zu festigen. Das Bildungswerk in Erlangen schafft eine Begegnungsstätte und bietet gleichzeitig Raum, um sich religions-, wissenschafts- und gesellschaftskritisch mit den Facetten dieser Identität auseinanderzusetzen.