Die Post-Corona-Revolution

Die Coronakrise beeinflusst auf absehbare Zeit unseren Alltag – und sie übernimmt auch die globale Ampelschaltung für die Zukunft. Ein Essay über das gewaltige Veränderungspotenzial der Pandemie von Daniel Hamilton, Politikprofessor der Johns Hopkins University und derzeit Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin.

Daniel Hamilton | Juni 2020
Daniel Hamilton
Sardari

Daniel Hamilton

ist Austrian Marshall Plan Foundation Professor und Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University. Er war leitender US-amerikanischer Diplomat und lehrte an verschiedenen Universitäten in Europa. Mit der Robert Bosch Stiftung verbindet ihn eine lange partnerschaftliche Zusammenarbeit. So war er 2008 als erster Senior Diplomatic Fellow der Robert Bosch Stiftung im Auswärtigen Amt tätig. Derzeit ist er Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin.

Wie wird die Welt aussehen, wenn der Corona-Sturm vorbeigezogen ist? Bisherige Antworten zu dieser Frage fokussieren sich vor allem auf die Auswirkungen des Virus selbst: Länder im Lockdown, Gesundheitssysteme in Aufruhr, Volkswirtschaften in der Krise, geschwächte nationale und internationale Institutionen. Der Menschheit wieder auf die Beine zu helfen, ist eine so gewaltige Herausforderung, dass sich Entscheidungstragende verständlicherweise auf die unmittelbar anstehenden Aufgaben konzentrieren.

Eine bessere Einschätzung unserer Realität nach Corona erlaubt uns allerdings erst der Blick über den Tellerrand. Es stellt sich die Frage, wie die welterschütternden Kräfte, die die Pandemie freigesetzt hat, drei Revolutionen von globalem Ausmaß beeinflussen – und im Gegenzug von ihnen beeinflusst werden. Drei Revolutionen, die sich aus der Entdeckung dessen ableiten, was Albert-Einstein-Biograf Walter Isaacson „die drei fundamentalen Kerne unserer Existenz“ nennt: „Atom, Bit und Gen“.

Die Revolutionen um Atom, Bit und Gen

Der atomaren Revolution, entfesselt von Einstein und anderen Physikern, verdanken wir Transistoren und Halbleiter, Laser, Radar, saubere Energie und GPS sowie Nuklearmedizin und Teilchenbeschleuniger. Sie brachte uns auf den Mond und schließlich auch zum Mars und darüber hinaus. Aber sie hat uns auch die Atom-, Wasserstoff- und Neutronenbombe gebracht und das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens“, also die garantierte gegenseitige Zerstörung der Atommächte, dazu noch radioaktiven Abfall und die Reaktorpannen von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima.

Die digitale Revolution, die auf unserer Fähigkeit basiert, binäre Zahlen bzw. Bits zu programmieren, verbindet Menschen und Kontinente wie nie zuvor. Ihr verdanken wir den Computer und das Internet, Smartphones und soziale Medien, 3D-Druck, das Internet der Dinge, 5G-Technologien, Präzisionslandwirtschaft und künstliche Intelligenz. Sie hat aber auch ganze Industriezweige zum Erliegen gebracht, das Auseinanderklaffen der Einkommensschere beschleunigt und Qualifikationslücken vergrößert. Sie hat Hacker und Trolle, das Dark Web und autonome Waffen möglich gemacht, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gestärkt und viele andere Formen von Vorurteilen und Hass geschürt. Sie hat Überwachungsstaaten den Weg geebnet und ermöglicht Autokraten, abweichende Meinungen zu unterdrücken.

Die Genom-Revolution, die auf unserer Fähigkeit basiert, unsere Gene und die aller anderen Lebewesen zu sequenzieren, macht es uns möglich, neue Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln, Viren nachzuweisen und abzuwehren sowie Mutationen zu antizipieren und zu reparieren – und das alles präziser und individueller denn je zuvor. Das gleiche Wissen kann jedoch auch dazu verwendet werden, Viren ansteckender zu machen, die Möglichkeiten zu Synthese und Modifikation von Viren und Bakterien für kriminelle Zwecke zu fördern, die Rohstoffe für bekannte und unbekannte Krankheitserreger herzustellen und sogar pathogene Biowaffen zu schaffen.

COVID-19 übernimmt die Weichenstellung

Jede dieser Revolutionen hat die Perspektive für die Entwicklung der Menschheit verändert, und jede ist inzwischen in eine neue Phase eingetreten. Die weitgehend bipolare nukleare Ordnung des Kalten Krieges ist einer diffusen Unordnung mehrerer Atommächte gewichen. Rüstungskontrolle und andere Mechanismen zur Steuerung des nuklearen Wettbewerbs verlieren an Bedeutung, die Hemmschwelle für die Nutzung von nuklearen Waffen sinkt, die Wahrscheinlichkeit, dass nichtstaatliche Akteure Zugang zu nuklearem Material erhalten, nimmt zu, und das Zerstörungspotenzial nicht-nuklearer Waffen entspricht mehr und mehr dem ihrer nuklearen Gegenstücke.

Die digitale Revolution, die auf Bits von Nullen und Einsen basiert, wird wohl bald von der transformativen Kraft der „Qubits“ abgelöst, die gleichzeitig 0 und 1 sein können und so ein Quantenvolumen erzeugen, mit dem künftige Computer in einer Minute das tun können, wofür heutige Computer ein Jahr brauchen. Diese Entwicklung wird digitale Verschlüsselungssysteme hackbar machen und dadurch die sicheren Ströme von Menschen, Geld, Waren und Dienstleistungen gefährden.

Die nächste Phase der Genom-Revolution ist die vielleicht tiefgreifendste, denn sie verwandelt den Menschen vom biologischen Regelbefolger zum Regelmacher. Die Fähigkeit, unsere Gehirne und Körper und die künftiger Generationen zu verbessern, wirft tiefgreifende ethische, rechtliche, politische und sicherheitspolitische Fragen über die eigentliche Bedeutung des Wortes „Mensch“ auf.

Während diese globalen Revolutionen rasant voranschreiten, übernimmt für die Zukunft erst einmal COVID-19 die globale Ampelschaltung.

In einigen Bereichen heißt es: Anhalten – und von vorne beginnen

Der digitalen Revolution gibt die Pandemie grünes Licht. Wenn der Sturm nachlässt, werden mehr öffentliche Dienste online verfügbar sein und mehr Menschen flexibler arbeiten und lernen. E-Commerce boomt, kontaktloser Handel ist im Entstehen. Beide kündigen die Ankunft einer am Kundendialog orientierten Wirtschaft an, deren Betriebssystem die menschliche Stimme sein wird. Das digitale Finanzwesen stellt neue Regeln auf, wie wir unser Geld bewegen und ausgeben. Vielversprechend sind die Möglichkeiten, Orten und Menschen in Not schneller Gelder bereitzustellen.

Auch die tiefgreifende Verflechtung digitaler und genomischer Innovation hat grünes Licht. Digitale Werkzeuge ermöglichen einen beispiellosen weltweiten Austausch von Gensequenzierungsdaten, um die Infektion nachzuverfolgen und einen Impfstoff zu entwickeln. Künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge (IoT) könnten der Ausbreitung anderer Krankheitserreger Einhalt gebieten. In diesem Jahr werden die ersten Menschen Krankheiten mit Hilfe des digitalen Genom-Editing in ihrem Körper bekämpfen. Die Telemedizin boomt, als nächstes kommt die Telechirurgie.

Allerdings steht dank Covid-19 die Ampel auf Gelb, was unsere Fähigkeit betrifft, die Folgen unserer eigenen Innovationskraft zu bewältigen. Die Rückverfolgung von Infektionsketten durch "contact tracing" hat dazu beigetragen, die Infektionskurve abzuflachen, wirft aber Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre auf. Genomische Techniken wie die Xenotransplantation – die Nutzung tierischer Organe für Menschen – sollten uns zu denken geben, gerade zu einem Zeitpunkt, da die Menschheit von einem Virus heimgesucht wird, das die Speziesgrenze übersprungen hat. Und die lähmende Gesundheitskrise sollte uns erneut darüber nachdenken lassen, welche globalen Schäden entstehen könnten, wenn wir die gestörte globale nukleare Sicherheit nicht in den Griff bekommen. Auch der vom Menschen verursachte Klimawandel ist eine langsam voranschreitende Pandemie, die die Gesundheit des Planeten bedroht, und doch haben Verträge und Abkommen wenig dazu beigetragen, ihren Vormarsch aufzuhalten.

Der Fokus auf nationale Sicherheit des Atomzeitalters muss Platz machen für die Realität transnationaler Sicherheit der Post-Corona-Ära.

In anderen Bereichen hat Covid-19 die Ampel auf Rot geschaltet. Hier müssen wir anhalten und wieder von vorne beginnen, zum Beispiel bei den dysfunktionalen globalen Institutionen, von denen die meisten für die staatszentrierte Welt des 20. Jahrhunderts konzipiert wurden und nicht für die staatsübergreifenden, netzwerk- und gesundheitszentrierten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Zu Beginn des Atomzeitalters stellte Einstein fest, dass „die Freisetzung der Atomenergie alles verändert hat außer unserem Denken“. Damals gab es noch nicht einmal die Worte, um zu beschreiben, wie eine solche revolutionäre Kraft die Welt verändern würde. Ein völlig neues Vokabular war nötig.

Und so ist es auch heute. Der Fokus auf nationale Sicherheit des Atomzeitalters muss Platz machen für die Realität transnationaler Sicherheit der Post-Corona-Ära. Regierungen, die es gewohnt sind, ihr Territorium zu sichern, müssen verstärkt darüber nachdenken, wie sie ihre gegenseitigen Verflechtungen sichern können – die Ströme von Nahrung, Medizin, Gütern, Dienstleistungen, Geld, Menschen und Ideen, die das Lebenselixier für das Wohlergehen ihrer Nationen sind. Boomende Globalisierungsnetzwerke, deren Entstehungszweck die Maximierung von Effizienz war, müssen Raum für Diversifizierung  schaffen. Wie die EU in der Coronakrise lernen musste, ist es nicht optimal, von einer einzigen Quelle völlig abhängig zu sein, in diesem Fall von Arzneimitteln aus China. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen „just in time“-Lieferung und „just in case“-Belastbarkeit finden.

Am wichtigsten ist, dass wir uns von der „Hamstermentalität“ der einzelnen Länder verabschieden, die Regierungen dazu bringt, in einen hoffnungslosen Wettlauf um den Schutz gegen bestimmte Krankheitserreger zu treten. Dank der Genom-Revolution haben wir das notwendige Wissen, um große Epidemien von Infektionskrankheiten auszulöschen. Wir sind in der Lage, netzwerk- und gesundheitszentrierte Kapazitäten aufzubauen und damit schnell zu reagieren, um jegliche Impfstoffe und Medikamente herzustellen und zu liefern, die benötigt werden, um jegliche Epidemien zu besiegen, wo auch immer sie auftreten mögen. Wir können unsere Gesundheit und unsere Sicherheit in gleichem Maße stärken. Aber zuerst müssen wir unsere Herangehensweise ändern. Und das wird nur mit Einfallsreichtum, Engagement und Führungsstärke möglich sein.