„Bürger und Politik sollten näher zusammenkommen“

Wie können wir in Deutschland die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 umsetzen? Und welchen Beitrag leisten wir zur Einhaltung der Menschenrechte weltweit? Im Bürgerrat hatten ausgewählte Menschen aus ganz Deutschland Gelegenheit, diese und weitere Fragen zu diskutieren und ihre Meinung in die Politik einzubringen. Wir haben mit zwei Teilnehmenden gesprochen.

Magnus Petz und Katharina Kleynmans | März 2021
Lisa Narendorf
Privat

Zur Person

Lisa Narendorf, 17 Jahre alt, ist Schülerin aus Lienen in Nordrhein-Westfalen und macht dieses Jahr ihr Abitur. Sie interessiert sich für Wirtschaftspsychologie als Studienfach und könnte sich vorstellen, später eine Zeit lang in Südamerika zu verbringen, um sich dort in einem zivilgesellschaftlichen Projekt zu engagieren.

Wie haben Sie davon erfahren, am Bürgerrat teilnehmen zu können?

Lisa Narendorf: Zuerst habe ich einen Brief vom Bürgerrat bekommen. Als der Brief kam, war ich zunächst verunsichert, weil ich den Bürgerrat überhaupt nicht kannte. Nachdem ich dann aber die Einladung zur Teilnahme und die Erläuterung zum Vorgehen gelesen habe, war ich direkt begeistert. Da nur bestimmte Gemeinden und Städte aus ganz Deutschland für den Bürgerrat ausgelost wurden, gibt es auch mehrere Teilnehmende aus meinem kleinen Dorf.

Helmut Kaack: Ich kannte den Bürgerrat auch nicht und konnte damit nichts anfangen. Ich habe dann im Internet recherchiert, was dahintersteckt. Über die Einladung habe ich mich sehr gefreut. Das ist ja fast wie ein Sechser im Lotto: Als einer von Millionen von Menschen in Deutschland ausgewählt zu werden. 

Das Thema des Bürgerrates war die Rolle Deutschlands in der Welt mit Blick auf Wirtschaft und Handel, Frieden und Sicherheit, nachhaltige Entwicklung, Demokratie und Rechtsstaat und Europäische Union. In welchen Gruppen haben Sie mitdiskutiert?

Helmut Kaack: Ich war in der Gruppe „Europäische Union" und wir hatten zwei Themen: die Migrationspolitik und die EU-Außenpolitik. Wir haben festgestellt, dass die Außenpolitik der EU sehr schwach ist und nichts alleine entscheiden kann. Ein einziges Land kann alles boykottieren. Da braucht es eine andere Abstimmungsform in der EU. Bei Migration stand für uns im Fokus, dass die Menschenrechte gewahrt werden müssen. Wir waren uns einig, dass Deutschland die Herkunftsländer der Menschen unterstützen muss. 

Lisa Narendorf: Ich war in der Gruppe zu nachhaltiger Entwicklung. Das war auch die Gruppe, die mich am meisten interessiert hat. Wir haben über drei Themen gesprochen. Einmal ging es um Deutschland und die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030. Wir haben gemerkt, dass vieles davon nur schwer umgesetzt werden kann oder unrealistisch ist. Das zweite Thema war Deutschlands Rolle im weltweiten Klimaschutz, das dritte Thema war die Agrarpolitik und die Bekämpfung des Welthungers. 

Helmut Kaack
Privat

Zur Person

Helmut Kaack, 61 Jahre alt, lebt in Neumünster in Schleswig-Holstein und ist Rentner. Er ist seit vielen Jahren Mitglied einer Partei und war lange im Bundesvorstand von Verdi. Im europäischen Parlament hat er eine Rede über Vergaberichtlinien im ÖPNV gehalten. Angeregt durch den Bürgerrat möchte er sich bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr in seiner Gemeinde stärker engagieren.
 

Es gab Vorträge von Fachpersonen und Raum für Diskussionen. Wie liefen die Sitzungen in Ihrer Gruppe ab?

Helmut Kaack: Wir haben uns zunächst ein Meinungsbild erarbeitet. Die Moderatoren haben uns dabei unterstützt, indem sie unsere Ideen auf kleinen Post-its festgehalten haben. Dann haben wir überlegt, wie wir uns dem Thema nähern können. In meiner Gruppe ging es beispielsweise um das Veto-Recht und die qualifizierte Mehrheit bei Abstimmungsprozessen in der Europäischen Union.

Lisa Narendorf: Wir haben sehr viele Informationen bekommen, manchmal schon fast zu viele (lacht). Da musste man sich Notizen machen, um auch alles im Kopf zu behalten. Aber ich fand es gut, dass im Anschluss alle Vorträge der Fachleute online gestellt wurden. Dadurch konnte ich Informationen später nochmal nachlesen und mich auf die nächste Sitzung vorbereiten. Hilfreich war auch, dass uns Anreize gegeben wurden, wie wir unsere Vorschläge für die Politik auf den Punkt bringen können, und nicht versucht haben, uns etwas in den Mund zu legen.

Am Ende des Bürgerrates haben wir Deutschland als Partner, Teamplayer oder Brückenbauer beschrieben. 

Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in den Themen, über die Sie diskutiert haben?

Lisa Narendorf: Wir sollten Substantive und Adjektive sammeln, die Deutschland beschreiben. Am Anfang des Bürgerrats wurde Deutschland häufig als Vorbild oder als Vorreiter beschrieben. Nach den Vorträgen der Fachpersonen haben wir aber gemerkt, dass Deutschland sich nicht als Vorbild sehen kann. Am Ende des Bürgerrates haben wir Deutschland eher als Partner, Teamplayer oder Brückenbauer beschrieben. 

Im Bürgerrat haben Sie auch Gespräche mit Politiker:innen geführt. So nah waren Sie der Politik wahrscheinlich noch nie, oder?

Lisa Narendorf: Ja, in dieser Form kannte ich das nicht. Wenn Corona nicht gewesen wäre, hätte ich außerdem mit meiner Schulklasse im Oktober auf einer politischen Bildungsfahrt den Bundestag besuchen können, um dort mit einigen persönlich zu sprechen. Leider konnte das nicht stattfinden.

Helmut Kaack: Mir ist aufgefallen, dass die Politiker aller Parteien sehr viele Gemeinsamkeiten hatten. Letztendlich sind sie aber natürlich parteigebunden und müssen sich auch bei Abstimmungen im Bundestag an eine Parteilinie halten. Dennoch haben sie viel gemeinsam: Egal ob die Grünen, die CSU oder die Linken.

Leitlinien des Bürgerrates

1. Deutschlands Rolle in der Welt sehen wir zukünftig als faire Partnerin und Vermittlerin, die gemeinschaftlich mit anderen, insbesondere mit der EU, eine Welt gestaltet, in der auch zukünftige Generationen selbstbestimmt und gut leben können.

2. Dazu setzen wir uns global für Nachhaltigkeit, Klimaschutz und die Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Sicherheit ein.

3. Wir wollen uns unserer Verantwortung für das Erreichen dieser Ziele stellen, indem wir transparent und vorausschauend handeln und unseren eigenen Ansprüchen gerecht werden.

4. Wenn wir dabei innovativ und inspirierend im eigenen Land vorgehen, selbstkritisch voneinander lernen und konsequent handeln, können wir für andere zum Vorbild werden.

Der Bürgerrat hat sich auf vier Leitlinien geeinigt. Finden Sie sich in den Leitlinien wieder?

Lisa Narendorf: Ich finde, dass das Allerwichtigste drin ist, aber mir fällt es schwer, die Aussagen so allgemein zu halten. Mir fehlt ein Ziel und die Antwort auf das Wie. Manchmal hätte ich mir klarere Ziele gewünscht, weil es noch mehr bewegen könnte. Aber die wichtigsten Werte sind enthalten. 

Helmut Kaack: Wir haben die Leitlinien auf vier zusammengeschrumpft, es waren ursprünglich mehr. Mit diesen vier Sätzen haben wir ausgesagt, was uns wichtig ist. 

Karte der am Bürgerrrat teilnehmenden Städte und Gemeinden
Bürgerrat

Die Karte stammt von der Website des Bürgerrates: www.deutschlands-rolle.buergerrat.de

Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus dem Bürgerrat mit?

Helmut Kaack: Bei den 154 Menschen, die dort eingeladen waren, habe ich festgestellt, dass das ein Querschnitt durch Deutschland war. Von jung bis alt, von Nord nach Süd und von Ost nach West. In den Gesprächen ist immer alles fair und sachlich abgelaufen. Ich wünsche mir, dass der Bürgerrat fest in der Politik verwurzelt wird. Manchmal habe ich das Gefühl, dass viele Menschen in der Politik gar nicht wissen, wie normale Menschen denken und fühlen. Das sieht man auch in dieser schwierigen Zeit. Daran erkennt man, dass elle näher zusammenkommen sollten. 

Lisa Narendorf: Ich kann dem zustimmen, mir hat vor allem die Diversität im Bürgerrat gefallen. Es waren auch mehrere Menschen in meinem Alter dabei. Was ich unter Beteiligung verstehe, ist vor allem die Möglichkeit, wählen zu gehen. Aber ich sehe darunter auch, dass man sich selbst aktiv über das Geschehen in der Politik informiert. Ich würde sagen, dass der Bürgerrat mich nochmal selbstbewusster gemacht hat, da ich gemerkt habe, dass meine Stimme Gehör findet.

Was erhoffen Sie sich nun von der Umsetzung der Ratsbeschlüsse und welches Thema liegt Ihnen besonders am Herzen?

Helmut Kaack: Das ist eine schwierige Frage (lacht). Man hat uns gesagt, dass die Beschlüsse an alle Parteien im Bundestag weitergeleitet werden und was diese daraus machen, können wir letztlich nicht beeinflussen. Wichtig ist mir besonders die Flüchtlings- und Migrationspolitik: Überall in Europa brauchen wir Einwanderer und da muss eine Regelung gefunden werden. Die aktuellen Zustände an den EU-Außengrenzen sind in dieser Form nicht haltbar. Natürlich können die Politiker nicht von heute auf morgen die europäische Gesetzgebung ändern. Ich hoffe aber, dass sie sich die Vorschläge zu Herzen nehmen und mal in eine andere Richtung denken. Das würde ich schon klasse finden!

Lisa Narendorf: Ich erhoffe mir auch, dass die Empfehlungen von der Politik ernst genommen werden, weil wir natürlich sehr viel Zeit in die Gespräche investiert haben. Ich bin da auf jeden Fall positiv eingestellt, auch wenn ich immer so ein bisschen die Befürchtung habe, dass es verloren geht. Natürlich haben wir sehr ambitionierte Ziele formuliert, aber ich hoffe, dass die Politik diese anerkennt und langfristig verfolgt. In meiner Gruppe zur nachhaltigen Entwicklung wurde zum Beispiel oft der Wunsch geäußert, dass die Nachhaltigkeit sogar im Grundgesetz verankert werden soll. Da bin ich gespannt, wie sich das entwickelt!

Ich hoffe, dass die Politiker sich die Vorschläge zu Herzen nehmen.

Wollen Sie sich nach dem Bürgerrat weiterhin für ein Thema politisch engagieren und wird es auch im Anschluss einen Austausch geben?

Lisa Narendorf: Es gibt schon eine WhatsApp-Gruppe mit fast 100 Leuten, in der wir uns weiter austauschen. Außerdem gab es auch schon den Vorschlag, dass wir uns nach Corona persönlich treffen, um auf die Zeit im Bürgerrat zurückzublicken. Ich könnte mir auch gut vorstellen, mich nach der Schule in der Flüchtlings- oder Nachhaltigkeitspolitik zu engagieren. Auch im Ausland, da interessieren mich besonders die südamerikanischen Länder.

Helmut Kaack: Ich war schon politisch engagiert und bin seit langem Mitglied einer großen Partei. Auch in einer Gewerkschaft bin ich aktiv. In meiner Gemeinde sind außerdem in diesem Jahr Bürgermeisterwahlen und ich habe mir vorgenommen, aktiver mitzuwirken. Ich glaube, es geht fast allen so: Ich sehe jetzt einige Dinge mit ganz anderen Augen.