Besser leben in Metropolen in China und Deutschland

Teilnehmer des Programms Stadtmacher China-Deutschland haben bei ANCB The Metropolitan Laboratory in Berlin ihre Projekte vorgestellt. Das entfaltete Panorama: ein Blick in die Stadt der Zukunft.

Philipp Wurm | Mai 2018
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Jan Siefke

Groß und Klein packen in Berlin im Urban Farming Garten an.

Knapp vier Milliarden Menschen wohnen mittlerweile in Städten, mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung. Ein Trend, der sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen wird. Spätestens bis 2050 werden, prognostizieren Demografen, zwei von drei Menschen in urbanen Ballungsgebieten siedeln. Die Anziehungskraft, die Metropolen ausüben, stellt die Weltgesellschaft vor eine große Herausforderung: Wie kann die prägende Daseinsform des 21. Jahrhunderts zum Gewinn für alle werden?

Das Stadtmacher-Programm, initiiert und gefördert von der Robert Bosch Stiftung und kuratiert und durchgeführt von Constellations International, entwickelt Szenarien – mittels eines deutsch-chinesischen Netzwerks aus Wissenschaftlern, Architekten, Kreativen, Entrepreneuren und gesellschaftlich Engagierten. Auf der Auftaktkonferenz zum Programm in Berlin im Herbst 2016 wurden von den Kuratoren drei Themen gesetzt, die als "blinde Flecken" im Austausch zu nachhaltiger Stadtentwicklung zwischen China und Deutschland identifiziert worden waren: Die Zukunft des Wohnens. Urbane Landwirtschaft. Kulturelles Gedächtnis.

Der Ambition des Programms "From Dialogue to Action" und dem Programmnamen getreu, bot die Stadtmacher-Plattform diesen drei Teams die Möglichkeit der Weiterentwicklung ihrer Ideen. Mit diversen methodischen Werkzeugen – von Stakeholder-Workshops, Social Media-Surveys und Interviews, Archivarbeit bis "oral history" sowie konkreter Praxis-Aktivität arbeiteten die drei Teams sieben Monate lang in beiden Ländern. Ende April haben die Macher Einblicke geliefert, auf Veranstaltungen im Rahmen der Asien-Pazifik-Wochen 2018 und auf der Plattform des AEDES Network Campus.

„Future of Living“

Wie sehen Wohnräume für den Stadtbürger der Zukunft aus, fragen die Mitglieder des Teams „Future of Living“. Ihr Masterplan für das ideale Habitat: ein Arrangement, das Privatwohnungen sowie Gemeinschaftsareale - von Familien-Refugien über Sport- und Kulturstätten - unter einem Dach versammelt. Die drei Fachleute Erhard An-He Kinzelbach, Architekt und Gründer von Knowspace in Berlin, Dr. Iris Belle, Assistant Professor für Stadtplanung und Architektur an der Tongji Universität in Shanghai und Binke Lenhardt, Mitgründerin des Architektenbüros Crossboundaries in Beijing, haben prototypische Projekte in Berlin und Hamburg, Shanghai und Beijing untersucht, die diese Utopie eines miteinander geteilten Lebensumfelds schon jetzt verwirklichen. Ein Konzept, von dem sämtliche Bewohner profitieren, sagt Iris Belle. Das neu gewonnene Nachbarschaftsgefühl schützt vor Einsamkeit und Anonymität. Die Gruppendynamik schafft Synergie-Effekte, indem jeder Bewohner seine Talente zur Geltung bringen kann, der eine bei Hausreparaturen, der andere bei der Gartenpflege. Und nicht zuletzt senkt Shared Living die Kosten für Ressourcen, ob Strom oder Wasser. Lauter Vorzüge, die Wohn-Projekten in beiden Ländern zugutekommen. Unterschiedliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen bestimmen dagegen die Projektentwicklung. In Deutschland sei das Kollektiv die treibende Kraft, im Sinne eines Bottom-Up-Prozesses, erklärt Iris Belle. Wohingegen in China – ein Land in dem Gesellschaft und Staat anders interagieren – die Investoren und Behörden der Motor sind, und Wohn-Projekte nach dem Prinzip des Top-Down-Prozesses geplant werden. Weniger als kulturelle Eigenheiten, sind es hier vor allem systembedingte Voraussetzungen, denen Initiativen und Baugruppen Rechnung tragen müssen.

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Jan Siefke

Dr. Iris Belle schildert die Überlegungen des Inkubators Future of Living für die Entwicklung von Wohnkonzepten für gemeinsames Wohnen in China.

„Shared Heritage“

Mit der Erinnerungskultur in geschichtsträchtigen Städten beschäftigte sich der Inkubator „Wuhan Narrative“. Der Schauplatz ihres Projekts ist Wuhan, die größte Stadt Zentralchinas, zugleich ehemalige Bühne der Kolonialära des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Durch ihre Recherchen in den Archiven in Deutschland und in Wuhan hat das Team nun belegt, dass Wuhan die erste deutsche Kolonie in China war. Zu diesem Ergebnis kamen Dr. Eduard Kögel, Architekturhistoriker und Stadtplaner, Yang Fang, Gründer der NGO „China Endangered Culture Protectors“ (CECP), Dr. Ines Eben von Racknitz, Professorin für chinesische Geschichte an der Nanjing Universität, und Urbanist Silvan Hagenbrock. Fremde Delegationen aus dem Kaiserreich, aber auch aus dem Commonwealth und dem russischen Zarenreich ließen damals Quartiere errichten, von Verwaltungsgebäude bis Villa. Einige historische Bauten aus dieser Zeit sind in Wuhan noch zu sehen, viele sind bereits abgerissen worden, referierte Yang Fang. Aber er erzählte auch von Führungen, die erhaltene Kolonialdenkmäler ins Licht setzen und von Aktivisten ausgerichtet werden – sowie von „Oral History“-Studien, in denen heutige Stadtbewohner die Zweckentfremdung der einstigen Kolonialarchitektur bezeugen. Am Ende brachte Yang die Idee einer Plattform aus Ehrenamtlern und Stadtbeamten sowie Experten ins Spiel, die der Diskussion über den künftigen Umgang mit dem kolonialen Erbe ein Forum bietet.

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Jan Siefke

Aus dem Inkubator Cultural Heritage berichtet Yan Fang aus der zentralchinesischen Stadt Wuhan von seinen Bemühungen deutsch-chinesisches architektonisches Erbe zu wahren und in der Bevölkerung und Stadtregierung ein Bewusstsein  für den Wert dieser Geschichte zu schaffen.

„Urban Farming Incubator“

Diese dritte Gruppe machte sich die Kultivierung von Brachen und verödeten Flächen zu eigen. Ihr Instrument: Urban Farming – eine nachhaltige Flächenbewirtschaftung, „die Rücksicht auf die nächsten Generationen nimmt“, wie Dr. Pan Tao, Gründer des privaten grünen Think-Tanks I-SEE und des ersten chinesischen Schrebergartens "Ecoland Club" Shanghai, erklärt. Ihr Experiment vollziehen die Pioniere um Dr. Pan Tao und Yimeng Wu, Gründerin des Design Studio Wu in Berlin, auf dem Dach einer Grundschule in Shanghai, wo sie chinesischen Senfkohl und Wasserspinat aussäten – sowie auf einer 400-Quadratmeter-Fläche auf dem Gelände des Berliner Max-Planck-Gymnasiums, wo sie einen Garten mit Radieschen, Schwarzwurzel und anderen Pflanzen anlegten. Das Gemüse sprießt in selbst gezimmerten Beeten mit speziellen Bewässerungssystemen. Die gewonnene Expertise mündete in einen Leitfaden, von dem sich weitere Gärtner inspirieren lassen können. Der gesellschaftliche Mehrwert von Urban Farming: Großstädter, die in Betonwüsten aufwachsen, entwickeln ökologisches Bewusstsein – und verbinden sich darüber hinaus zu Kollektiven, die Beispiele einer solidarischen Stadtgesellschaft sind.

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Jan Siefke

Dr. Pan Tao und Yimeng Wu präsentieren ihre Pläne für Gemeinschaftsgärten in China und Deutschland.

Über das Programm

Das Stadtmacher-Programm ist das erste interdisziplinäre Netzwerk aus deutschen und chinesischen Fachleuten, das Ideen für eine nachhaltige Stadtentwicklung in beiden Ländern erarbeitet. Neben der Förderung der drei oben beschriebenen Projekte, ist das Ziel des Programms, Akteure aus Städten in China und Deutschland zusammenzubringen und gemeinsam neue Perspektiven für ein lebenswertes Miteinander in urbanen Räumen zu schaffen. Aus über 30 Interviews mit Stadtmachern im vergangenen Jahr, sowie weiteren 30 im Vorjahr, ist nun die zweite Ausgabe der Stadtmacher Empfehlungen entstanden.