Am Ruhepol
Im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf werden Patienten mit der Nebendiagnose schwere Demenz auf einer eigenen Station behandelt, wo man sich speziell auf sie eingestellt hat. Ein Ortsbesuch.
Von Anfang an dabei: Schwester Svenja. Sie leitet die Station David.
Der ältere Mann mit der Cordhose schreitet langsam über den hell erleuchteten Flur, dreht um und geht denselben Weg zurück, zum wiederholten Mal. Er hat den Drang fortzugehen, wegzufahren, doch das Leben, in das er zurückkehren möchte, liegt weit in der Vergangenheit. Er ist schwer demenzkrank, wie alle Patienten auf der Station David des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf in Hamburg.
Schwester Svenja Ostojic berührt den Mann vorsichtig am Ellenbogen und führt ihn in eine Sitzecke, die einem Wartezimmer nachempfunden ist. „Wir hätten hier auch eine Bushaltestelle einrichten können“, sagt die 40-jährige Stationsleiterin, „doch das hieße, den Patienten etwas vorzumachen.“ Es kommt ja kein Bus. Der würdevolle Umgang mit den demenzkranken Menschen ist eine Aufgabe, die Einfühlungsvermögen und immer wieder auch Kreativität erfordert. „Setzen Sie sich doch schon mal, Herr Schulz“, sagt Schwester Svenja, „wir holen Sie dann später wieder ab.“ Herr Schulz setzt sich neben das Schild „Wartezimmer“ und schaut für eine ganze Weile von dort aus dem Treiben auf der Station zu. „Die Patienten sind in ihrer eigenen Welt“, sagt die Krankenschwester. „Wir wollen ihnen kein Theater vorspielen, aber sie auch nicht immer wieder mit einer Realität konfrontieren, die sie meist gar nicht mehr sehen.“
Die Arbeit von Schwester Svenja erfordert ein hohes Einfühlungsvermögen – und Kreativität im Umgang mit den Patienten.
Die David ist eine internistische Station speziell für Demenzkranke, die aufgrund einer anderen akuten Erkrankung im Krankenhaus sein müssen. 2011 gegründet, war sie bundesweit die erste Fachabteilung für Innere Medizin, in der ein auf Demenzkranke abgestimmtes Gesamtkonzept umgesetzt wird. In deutschen Akutkrankenhäusern ist Demenz unter älteren Menschen weitverbreitet, fast jeder fünfte Patient über 65 ist betroffen, stellte 2016 eine von der Robert Bosch Stiftung geförderte Studie der Hochschule Mannheim und der Technischen Universität München fest. „Patienten mit Demenz brauchen mitunter ein besonderes Setting, das auf Allgemeinstationen nur schwer umsetzbar ist“, sagt Christian Kügler, der als Chefarzt der Geriatrie und Inneren Medizin für die Station David verantwortlich ist. Diese Patienten zeigten vielleicht abwehrendes, aggressives Verhalten oder die Tendenz, irgendwohin laufen zu wollen. „Auf der Allgemeinstation wäre das Personal ein Stück weit überfordert“, sagt er. Üblicherweise würden solche Patienten dort stärker durch Medikamente ruhig gestellt oder sogar mechanisch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, was bei Demenzpatienten ein Delir – eine akute Verschlechterung der Gehirnfunktionen – auslösen kann. „Auf der David haben wir da andere Möglichkeiten“, sagt Kügler.
Es ist sechs Uhr morgens. Schwester Svenja übernimmt die Station von der Nachtschicht, zusammen mit einer Kollegin, einem Kollegen und einer Pflegeschülerin. Während die anderen um einen Tisch herum sitzen und Kaffee trinken, berichtet die Nachtschwester von den Patienten, erzählt, welche Betten sie mehrfach neu bezogen hat, wer schreiend aufgewacht ist und von ihr beruhigt werden musste. Plötzlich ertönt ein fragendes „Hallo?“ von nebenan. Eine Patientin ist schon wach, steht im Morgenmantel im offenen Dienstzimmer und wird freundlich begrüßt.
„Patienten mit Demenz brauchen mitunter ein besonderes Setting, das auf Allgemeinstationen nur schwer umsetzbar ist.“
Die elf Patienten der Station David sind – mit einer Ausnahme – über achtzig Jahre alt. Um ihnen ein gutes Gefühl zu geben, ist die Station an vielen Orten so eingerichtet, dass sie sich an ihre jungen Jahre erinnert fühlen: Von Plakaten an den Flurwänden grüßen Heidi Kabel, Freddy Quinn, Hans Albers, Humphrey Bogart und die Beatles. Die Zimmertüren haben große Zahlen und unterschiedliche Farben, sodass sich die Patienten leichter zurechtfinden. Um sie vom Verlassen der Station abzuhalten, behilft man sich mit einem Trick: Es gibt nur einen Ausgang, der direkt hinter dem offenen Dienstzimmer liegt – und der ist als Aquarium getarnt. An einer anderen Stelle befindet sich in der Flurwand ein echtes Aquarium, durch das man ins „Wohnzimmer“ schauen kann. Dieser Aufenthaltsraum könnte als kleines Museum deutscher Inneneinrichtung durchgehen. Es gibt einen Weltempfänger aus den Fünfzigern, die beiden Lampen sind Nachbauten des Designklassikers PH 5 von Poulsen aus dem Jahr 1958, die Streifentapete mit Rosen erinnert an die Siebziger.
Die Inneneinrichtung der Station David: eine Erinnerung an die jungen Jahre der Demenzkranken.
Um sieben Uhr sitzen im Speiseraum schon Frau Dierkes und Frau Brinkmann zum Frühstück. Eine feste Zeit für alle gibt es nicht – wer ausschlafen und später essen möchte, darf das. An der Wand hängt das heutige Datum übergroß zwischen den Fenstern, durch die man einen knospenden Baum, einige Wohnhäuser und den strahlend blauen Himmel sehen kann. Frau Dierkes hatte nach ihrer Einlieferung zunächst die Nahrungsaufnahme verweigert, eine Pflegeschülerin reicht ihr nun Löffel um Löffel geduldig den Brei an. Dierkes spricht nicht, zieht aber nach fast jedem Löffel den Mund spitz zusammen und die Schultern hoch. „Du guckst, als ob das sauer ist“, sagt die Schülerin, „– süßer geht ja kaum.“ Sie streicht der alten Frau mit den kurzen weißen Haaren über die Wange und erklärt ihr, dass im Brei Medikamente sind, die sie braucht. Geduzt wird hier nur, wenn die Patienten oder ihre Angehörigen das wünschen. Frau Dierkes reagiert nicht. Ob sie wohl versteht? Es dauert zwanzig Minuten, bis die Schale leer ist.
Individuelle Versorgung – mit viel Fingerspitzengefühl
Um achtsam und respektvoll mit Demenzpatienten umzugehen, ist Zeit ein entscheidender Faktor, denn auch in den fortgeschrittensten Stadien der Demenz haben die Patienten noch einen Willen und eine Einverständnis- und Kooperationsfähigkeit. „Um den mutmaßlichen Willen herauszufinden“, erklärt Chefarzt Kügler, „muss man sich auf den Patienten einlassen, braucht Zeit für die Beobachtung seiner persönlichen Verhaltensweisen und wirklich viel Fingerspitzengefühl.“ Das bestätigt auch Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg und seit 2003 Vorsitzender der Altenberichtskommissionen des Bundestags. Er hat intensiv zu diesem Thema geforscht. „Jegliche Form des Übergehens dieses Willens, jegliche Missachtung der Autonomie kann bei einem demenzkranken Menschen zu innerer Unruhe, zu Agitiertheit, ja, zu Protest und Ablehnung führen“, sagt er. „Entscheidend ist, dass wir uns in Mimik und Gestik eines demenzkranken Menschen einlesen, und wenn uns dies gelingt, können wir differenziert und zuverlässig beurteilen, welche Situationen dieser positiv, welcher negativ, welche er neutral bewertet.“ So erhalte man eine Art Kompass, anhand dessen man entscheiden könne, in welchen Situationen man demenzkranke Menschen führt oder eben nicht führt.
Schwester Svenja ist einem Ruf in Zimmer sieben gefolgt, zum ersten Mal kommt so etwas wie Eile auf. Im vorderen Bett liegt Herr Krüger. Er wurde vor Kurzem von der Intensivstation gebracht, ist körperlich sehr geschwächt und muss künstlich ernährt werden. Gerade hat er sich den Infusionsschlauch an der Hand und die Magensonde, die über die Nase geführt wird, herausgerissen und versucht, aufzustehen. Zwei Pfleger und eine Ärztin stehen nun an seinem Bett und beratschlagen, was zu tun ist. „Vielleicht doch fixieren?“, sagt die Ärztin leise zu Schwester Svenja. „Nein, das würde ich auf jeden Fall vermeiden wollen“, antwortet diese – und wendet sich dann dem Patienten zu, fasst seine Hand: „Herr Krüger, wir machen den Schlauch jetzt wieder dran, aber bitte nicht aufstehen!“ Krüger schaut sie still an. „Nicht aufstehen, versprochen?“ „Ja, ja“, antwortet er. „Ehrenwort?“ Der Patient nickt leicht. „Gut.“ Die drei verlassen den Raum. „Den werden wir heute noch öfter wieder befestigen müssen“, vermutet Schwester Svenja. Auch die Magensonde wird etwas später, nach Rücksprache mit den Angehörigen, noch einmal gelegt.
„Manchmal setzt die Musik etwas in Gange, das sich dann zwischen den Menschen fortpflanzt.“
Eine Stunde vor dem Mittagessen kommt Besuch. Musiktherapeutin Gertrud Ganser stellt sich im Speiseraum vor und startet dann die Musik – „das ist ein Foxtrott!“ Herr Winter, 80 Jahre, edle Armbanduhr und gute Schuhe, fordert sie auf, die beiden Tänzer harmonieren wie ein eingespieltes Paar. „Toll, mal jemanden zu haben, der gut tanzen kann“, freut sich Ganser. Dann legt sie etwas Lateinamerikanisches für Frau Fischer auf, die den Text mitspricht und sogar übersetzen kann. „Wenn man singt, dann freut sich das Herz auch“, interpretiert sie die spanische Liedzeile. Ganser lacht. Als Nächstes ist Frau Dierkes an der Reihe, die zusammengekauert am Tisch sitzt und, seit sie am Morgen den Brei angereicht bekommen hat, kaum eine Regung gezeigt hat. „Ich habe etwas für Sie“, sagt Ganser und startet mit einem Knopfdruck auf ihrer kleinen Fernbedienung „Oh, Donna Clara“, einen Tango aus den Zwanzigern in der Version von Alfred Hause und Orchester. Dierkes schaut sie an, öffnet den Mund, fährt sich mit der Hand durch die Haare. Ganser setzt sich ihr gegenüber, fährt sich ebenfalls mit der Hand durchs Haar und spiegelt ihre Bewegungen. Mit dieser Methode lässt sich zu verschlossenen Patienten manchmal Kontakt aufbauen. Nach einer guten halben Minute steht die alte Frau auf, bewegt sich mit wackeligen Schritten auf die Therapeutin zu und sucht ihre Handgelenke. Sie lachen sich an, halten sich an den Armen und tanzen auf der Stelle – eine unerwartete Wendung für die übrigen Anwesenden, die aufmerksam zuschauen. Auch beim letzten Lied steht Frau Dierkes wieder auf und bewegt sich wiegend hin und her. „Wollen Sie sich noch mal hinsetzen?“, fragt die Therapeutin schließlich und fasst die Patientin sanft am Ellenbogen, bis sie wieder sitzt. „Ich schieb sie noch mal ein bisschen ran – auf Wiedersehen!“
Musiktherapeutin Gertrud Ganser kann mithilfe von Musik manchmal Kontakt zu verschlossenen Patienten aufbauen.
Während Ganser Schwester Svenja auf dem Flur von ihrer unerwarteten Tanzpartnerin berichtet („Frau Dierkes ist richtig aufgetaut heute!“), setzt sich im Gemeinschaftsraum Herr Winter, der gute Tänzer, neben Frau Dierkes, spricht sie an, und nach einigen Augenblicken nimmt sie seine Hand. Zwischen den aufgeklebten Blumen der Plexiglasscheibe kann man erkennen, dass Winter der Frau, die zuvor so in sich gekehrt und isoliert wirkte, freundschaftlich über die Wange streicht. „Manchmal setzt die Musik etwas Gutes in Gange, das sich dann zwischen den Menschen fortpflanzt“, erklärt Therapeutin Ganser zufrieden.
Eine internistische Station wie die David in Alsterdorf ist noch immer selten in Deutschland. „Dabei entlastet sie die Allgemeinstationen erheblich“, sagt Christian Kügler. Man dürfe es nur nicht so verstehen, warnt der Chefarzt, dass man durch die Station im übrigen Krankenhaus nichts mehr mit demenzkranken Patienten zu tun hätte. Auch auf der Allgemeinstation müsse man eine sich entwickelnde Demenz diagnostizieren und mit schwächeren Ausprägungen der Krankheit sensibel umgehen können. „Bei uns ist daher das Personal des gesamten Krankenhauses, nicht nur der Station David, speziell geschult.“ Die Robert Bosch Stiftung fördert diese Entwicklung einer gesamten Klinik zum demenzsensiblen Krankenhaus in Alsterdorf und an 16 anderen Standorten in Deutschland.
Die Hauptaufgabe des geschulten Personals: die Lebensqualität demenzkranker Menschen sichern.
Auch Gerontologe Kruse ist vom Modell der Station David überzeugt. „Um ein solches Modell flächendeckend umzusetzen“, sagt der Heidelberger Forscher, „müssen wir bei Klinikverantwortlichen noch ein deutlich höheres Bewusstsein für jene Verantwortung schaffen, die wir mit Blick auf die Lebensqualität demenzkranker Menschen auch im Klinikalltag tragen.“ Kruse sieht auch die Entscheidungsebene der Krankenkassen angesprochen, schließlich sei ein solches Modell ressourcenintensiv. Dass die zusätzlichen Personalkosten nicht durch Gelder der Krankenkassen gedeckt werden, belegt eine Studie des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), die die Wirksamkeit der Station David untersuchte.
Doch auch wenn eine solche Station für den einzelnen Krankenhausträger nicht rentabel ist, könnte sie sich für das Gesundheitssystem insgesamt rechnen. „Auf der Station David verhindern wir Stürze, verabreichen weniger Neuroleptika“, sagt Chefarzt Kügler – wodurch, vermutet er, es den Patienten länger gut gehe, sie insgesamt weniger Krankenhausaufenthalte bräuchten und erst später ins Pflegeheim müssten. Die UKE-Studie stützt diese Annahme und stellt fest, dass die Volkswirtschaft durch die Vermeidung von Folgekosten profitiert.
Es ist dreizehn Uhr. Auch Schwester Svenja bekommt nun, eine Stunde vor ihrem Schichtende, noch etwas von der positiven Wirkung der Musiktherapie ab. Während die anderen Patienten schon ihr Mittag essen serviert bekommen haben, sitzt Frau Dierkes noch am leeren Tisch. Als Schwester Svenja an ihr vorbeigeht, ruft sie. Die Stationsleiterin kniet sich neben sie. „Na, meine Süße, willst du was essen?“ Als Antwort bekommt sie einen Kuss auf die Wange. „Manchmal bin ich schon mit Kopfschmerzen nach Hause gegangen“, sagt die Krankenschwester wenig später, „aber heute war eine richtig schöne Schicht, ein Supertag.“