Ukraine

Zwischen Bomben und Büchern: Warum der kulturelle Widerstand in der Ukraine wichtiger ist als je zuvor

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die Kultur des Landes: Tausende ukrainische Kultureinrichtungen sind seit 2022 gezielt angegriffen worden. Die Kulturszene in der Ukraine trotzt der Zerstörung mit einer nie dagewesenen schöpferischen Produktivität. Kultur ist kein Beiwerk, sondern ein Bollwerk, sagt Julia Teek aus unserem Ukraine-Team und plädiert dafür, dass sich internationale Unterstützung für die Ukraine stärker auf die Kultur konzentriert.

Text
Julia Teek
Fotos
Oleksandr Gimanov, Oleksandr Osipov / Meridian Czernowitz
Datum
04. November 2025

Begleitet von russischen Angriffen fanden zwischen Ende Juni und Anfang November Literaturfestivals in den ukrainischen Städten Charkiw, Saporischschja, Czernowitz, Odesa und Mykolajiw statt, die unsere Stiftung fördert (im Bild oben ein Büchertisch beim Literaturfestival in Odesa). In den letzten zweieinhalb Jahren wurden in diesen fünf Städten mehr als 3.300 Zivilist:innen getötet. Und doch suchen die Menschen dort nach Prosa und Poesie. „In diesen Städten gibt es ein Publikum, das uns einlädt und uns schreibt, dass es Kultur braucht“, sagt die Festivalleiterin Evgenia Lopata von Meridian Czernowitz.

Über die Autorin

Julia Teek

Julia Teek ist Senior Projektmanagerin in unserem Sonderbereich Ukraine und arbeitet zu den Themen Zivilgesellschaft und kulturelle Identität. Sie ist seit 2015 Teil der Robert Bosch Stiftung und befasst sich unter anderem damit, wie Gesellschaften durch Migration und Kultur geprägt werden. Zuvor war sie in Kunst- und Kultureinrichtungen sowie in Initiativen der kulturellen Bildung tätig.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat neben der militärischen Gegenwehr eine bemerkenswerte Reaktion seitens der Zivilgesellschaft ausgelöst – ein Beispiel: Bekannte Autor:innen wie Jurij Andruchowytsch, Iryna Tsylyk und Serhij Zhadan reisen in vom Krieg schwer gezeichnete Städte, um den Menschen vor Ort zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind, und um ihren Durst nach Kultur zu stillen: „Der […] Schutzkeller ist wieder bis auf den letzten Platz gefüllt“, schreibt der Autor Robert Prosser über das Festival in Charkiw (Quelle: Der Standard).

Publikum hört zwei Autoren zu, die sich auf einer hell erleuchteten Bühne unterhalten
Bühne im Bunker: Die Dichertin Yuliia “Taira” Paievska im Gespräch mit dem preisgekrönten Autor Serhij Zhadan beim Literaturfestival in Charkiw

Kultur als Angriffsziel

Allen ist bewusst, dass es um mehr als „nur“ Zusammenhalt geht. Russland spricht der Ukraine ihre Souveränität ab und will ihr nationales Erbe auslöschen. Neben territorialen Ansprüchen richtet sich die Vollinvasion gegen die kulturelle Identität der Ukraine. Dies zeigt sich in Angriffen auf 2.233 Kultureinrichtungen, die die ukrainische Regierung bis Ende März 2025 dokumentierte, darunter 792 Bibliotheken, 122 Museen und Galerien sowie 42 Theater, Kinos und Konzertsäle (Quelle: Human Rights Center ZMINA). „Kultur und Sprache stärken unsere Nation“, sagt Marjana Varchuk vom Kyjiver Khanenko-Museum. „Deshalb beschießen die Russen unsere Denkmäler, unsere Museen und unsere Geschichte.“

Auch Kunstschaffende und Intellektuelle selbst sind im Visier: PEN Ukraine zählte in den ersten beiden Kriegsjahren 153 getötete Künstler:innen, darunter der Autor Wolodymyr Wakulenko, der vor einem Schuss ins Genick offenbar gefoltert wurde. Die preisgekrönte Autorin Victoria Amelina, die bei einem Bombenangriff verstarb, sagte: „Sie wollen, dass wir, die ukrainischen Schriftsteller, verschwinden.” Zhadan, der jüngst von Russland zum Staatsfeind erklärt wurde, beschreibt es so: „Das verleiht dem ohnehin schon harten Überlebenskampf eine neue Dimension. Es wird zu einem Kampf um unsere Identität.”

Sprache als Symbol des Widerstands

Infolgedessen ist der Widerstand gegen Russland auch zu einem Kampf gegen kulturelle Vorherrschaft geworden. Nach dem Angriff Russlands im Jahr 2022 entfernte die Ukraine rund 19 Millionen russischsprachige Bücher aus ihren Bibliotheken und stoppte weitere Importe – in einem Land, in dem Russisch über mehr als 70 Jahre die Sprache der Elite gewesen war.

Ukrainisch wurde 1996 zur offiziellen Staatssprache, und der Krieg hat ihre Rolle im Alltagsleben und in der Literatur weiter gestärkt: Während 2012 noch 42 Prozent der Bevölkerung angaben, Russisch im Alltag zu sprechen, war dieser Anteil bis 2023 auf nur noch 12 Prozent gesunken (Quelle: Center for European Policy Analysis). Sprache ist zu einem Symbol des Widerstands geworden.

Aus unserer Ukraine-Förderung
Alena Grom
Documenting Ukraine

Die menschliche Erfahrung des Krieges zeigen

Im Projekt Documenting Ukraine machen ukrainische Intellektuelle und Kreative die Perspektiven der Menschen im Kriegsgeschehen sichtbar.

Westliche Medien übersehen häufig den kulturellen Widerstand der Ukraine, der von einer Zivilgesellschaft getragen wird, die durch die Revolutionen von 2004 und 2014 geprägt ist und als eine der stärksten Europas gilt. Ein Grund dafür könnte sein, dass fast alle staatlichen Mittel in die Verteidigung fließen, Kulturhaushalte wurden radikal gekürzt. Eine solche Berichterstattung lässt außer Acht, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach identitätsstiftenden Projekten – etwa Literaturfestivals – stark gestiegen ist. Kultur ist kein Luxus, sie „ist immer wichtig, aber in Kriegszeiten besonders entscheidend“, sagt der Regisseur Ivan Uryvskyi (Quelle: Deutsche Welle). Internationale Stiftungen und Geldgeber müssen die Lücke, die der Staat hinterlässt, schließen und mehr zur Stärkung der kulturellen Resilienz der Ukraine beitragen.

Aus Zerstörung wächst kulturelle Stärke

Seit dem ersten Kriegstag verteidigen Ukrainer:innen nicht nur ihr Land, sondern auch ihre kulturelle Identität. Museen evakuierten ihre Sammlungen, Theater verlegten Aufführungen in Bunker. Gleichzeitig entstanden neue Konzepte für Nutzung und Wiederaufbau. Künstler:innen widersprechen Putins Narrativ, die Ukraine habe keine eigene Identität, mit einer nie dagewesenen schöpferischen Produktivität. Und die Gesellschaft reagiert: in Kyjiv sind Theaterkarten meist ausverkauft, und noch nie wurden in der Ukraine so viele Bücher geschrieben, gedruckt und verkauft wie seit Kriegsbeginn. Jedes neue Werk in ukrainischer Sprache ist ein kleiner Sieg – umso mehr nach dem gezielten Angriff auf die Druckerei „Faktor Druk“, die für rund die Hälfte der ukrainischen Buchproduktion verantwortlich war (Quelle: Der Standard).

„Es ist schon ironisch, dass jeder Versuch Russlands, die ukrainische Kultur zu zerstören, das Gegenteil bewirkt hat“, sagt Andruchowytsch. Aus der Zerstörung wächst eine Gegenbewegung: Die Ukrainer:innen erleben ihre kulturelle Identität neu, schöpfen Kraft aus Sprache, Kunst und Literatur. Kultureinrichtungen wurden zu lebendigen Orten des Widerstands, und auch kultureller Ausdruck und Kulturkonsum sind Gesten dieses Widerstands.

Gerade in Zeiten des Krieges braucht es mehr Kultur – nicht weniger. Denn Kultur ist kein Beiwerk, sondern ein Bollwerk: gegen das Vergessen, gegen die Auslöschung, gegen die Vereinnahmung. Wer die Ukraine unterstützen will, muss auch ihre kulturelle Identität schützen und stärken – internationale Geldgeber:innen wie Stiftungen sind gefragt. Es ist an der internationalen Gemeinschaft, Kultur nicht als Luxus, sondern als Teil der Verteidigung zu begreifen – und entsprechend zu handeln.

 

Dieser Artikel ist unter dem Titel „Culture under fire: The world has to help Kyiv resist Moscow with bombs and books“ im Magazin Alliance – For philanthropy and social investment worldwide erschienen.

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