Menschsein in Zeiten des Wandels

Wir leben in einer Zeit des massiven Wandels und Umbruchs. Aktuell führt die Pandemie zu gesellschaftlichen Verwerfungen, zu existenziellen Nöten. Zudem schreitet die Digitalisierung rasant fort, und der Klimawandel wird immer spürbarer. Wie können wir menschliche Qualitäten schützen und stärken, um auch in Zukunft ein menschenwürdiges Leben zu gestalten? Darüber sprechen wir mit Dr. Christof Bosch, dem Vorsitzenden des Kuratoriums der Robert Bosch Stiftung, Enkel des Stifters und Firmengründers Robert Bosch.

Karin Heinlein | Januar 2021
Porträt Christof Bosch
Björn Hänssler

„Es gibt eine starke Bewegung hin zur globalen Verantwortungsübernahme – trotz aller Rückschläge“, sagt Christof Bosch.

Die aktuelle Situation fordert die Menschheit in vielerlei Hinsicht heraus. Wie erleben Sie das persönlich?

Ich habe großes Glück, denn meine ist Familie gesund, und wir leben auf dem Land, wo die Einschränkungen der Pandemie keine schwere Belastung sind. Zugleich spüre ich aber auch, mit welcher Wucht der verschärfte Wandel unsere Gesellschaften in Mitteleuropa erreicht hat. Zuvor waren die schwierigen Themen oft weit weg von uns – seien es Epidemien oder die Auswirkungen des Klimawandels. So konnten viele Menschen auch verdrängen, dass das Leben unserer globalen Zivilisation mit sieben Milliarden Menschen noch nicht nachhaltig ist. Jetzt herrscht Verunsicherung, die sich in Polarisierung, hektischem Agieren oder auch Apathie zeigt.

Sie sind Gesellschafter und Aufsichtsrat der Bosch-Gruppe und Kuratoriumsvorsitzender der Robert Bosch Stiftung. Wie prägt der beschleunigte Wandel Ihren Blick auf das Unternehmen und die Stiftung? 

Als Vertreter der Familie Bosch richtet sich mein Blick vor allem auf die Verbindung von Tradition und Zukunft und auf unsere Werte. Angesichts des dramatischen Wandels in jüngster Zeit finde ich es wichtig zu unterscheiden: Welche Werte sind nur Ausdruck von Gewohnheit? Welche dagegen sind zeitlos gültig? Ich denke, der nachhaltige Erfolg des Unternehmens Bosch und der Bosch-Stiftung hat viel mit gut begründeten, zeitlosen Werten zu tun, wie Anstand und Respekt – gegenüber anderen, gegenüber der Natur und gegenüber der Wahrheit. 

Die gegenwärtige Situation führt bei vielen Menschen zu Verunsicherung. Was sagen Sie ihnen? 

Ich kann dieses Gefühl gut nachvollziehen. Für die Menschheit insgesamt ist zwar ein Leben in existenzieller Unsicherheit nichts Neues. Aber gerade wir in Mitteleuropa haben eine lange Phase relativer Stabilität erlebt, und so trifft uns der massive Wandel hart. Da hilft es, sich ganz bewusst zu fragen: Worin genau besteht meine Verunsicherung in der gegenwärtigen Situation? Was sind wirklich meine Risiken und worin bestehen meine Handlungsmöglichkeiten? Je sicherer wir uns in unserem Inneren sind, desto eher können wir mit der objektiven Unsicherheit unserer Zeit umgehen.

Porträtfoto von Robert Bosch
Robert Bosch GmbH, Historische Kommunikation

Stifter und Firmengründer Robert Bosch.

„Sei Mensch und ehre Menschenwürde“ ist eines der bekanntesten Zitate Ihres Großvaters. Welches Menschenbild liegt dem zugrunde? Was bedeutet es für uns heute? 

„Menschenwürde“ ist seit der Aufklärung zu einem zentralen Konzept geworden, weil wir die Bedeutung des Menschlichen nicht mehr aus einem religiösen Kontext ableiten können. Es ermöglicht, in rationaler Form auszudrücken, dass der Mensch einen einzigartigen Wert hat. Dieser Wert beruht auf unserem Bewusstsein, unserer Selbstverantwortung und unserer Entscheidungsfreiheit. Mein Großvater war sehr freiheitsliebend, und zugleich lag ihm viel an Objektivität. Sein „sachlicher Idealismus“ ließ sich mit dem Prinzip der Menschenwürde am besten verdeutlichen. Daher war ihm das Zitat wichtig.

Auch wenn die Menschenwürde, wie unser Grundgesetz sagt, unantastbar ist, scheint sie doch in sozialen Medien bisweilen nicht viel wert zu sein. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen? 

Die Anonymität im Netz und das Gefühl, unter Gleichgesinnten „das Richtige zu sagen“ hebt die soziale Kontrolle auf, die uns sonst zu verantwortlichem Verhalten zwingt. Umso wichtiger ist ein innerer moralischer Kompass, der Wert von Anstand und Respekt. Dafür braucht es eine menschliche Reife, die wir alle erst einmal erwerben müssen. Stattdessen werden aber oft schlicht Emotionen abreagiert, sehr zum Schaden aller. 

Wie passt der Mensch mit seinen Qualitäten in die digitale Welt?

Die digitale Welt ist ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten und auf diese Weise dem menschlichen Bewusstsein ähnlich. Jedoch können Informationsbits allein nicht zwischen wahr und fiktiv unterscheiden helfen, „alternative Fakten“ können sich daher ebenso wie echte Fakten ausbreiten. Daher muss vom Menschen die Orientierung an der Wahrheit kommen, die Frage danach, was wirklich stimmt. Er muss auch entscheiden, welche digitalen Entwicklungen der Menschheit förderlich sind und lernen, diese so zu nutzen, dass sie dem Leben dienen. Auch dafür steht übrigens das Bosch-Leitmotiv „Technik fürs Leben“. Aber das verlangt nach innerer Klarheit, die verhindert, dass wir uns von den digitalen Möglichkeiten wegtragen lassen.

Nachhaltiger Erfolg hat viel mit zeitlosen Werten wie Anstand und Respekt zu tun.

Was sollten der Einzelne und die Gesellschaft für ein menschenwürdiges Leben in der Zukunft tun? 

Wir müssen uns selbst, unsere Motive, unsere Bedürfnisse und Ängste besser verstehen lernen. Dann verstehen wir auch andere Menschen und Kulturen besser. Das ist unabdingbar, wenn wir eine nachhaltige globale Zivilisation aufbauen wollen. Es gibt keinen Staat, der so etwas erzwingen kann, dafür braucht es freiwilliges Zusammenwirken. Wir Menschen sind soziale Wesen – das heißt, wir sind durchaus zu dieser Zusammenarbeit fähig. Voraussetzung ist, dass wir reif genug sind und unsere inneren Konflikte selbst lösen, statt damit unsere gesellschaftlichen Konflikte aufzuladen und diese so unlösbar zu machen. 

Wie haben Sie das für sich selbst beantwortet? 

Ich habe verstanden, dass wir unsere innere Welt ebenso kennen lernen müssen, wie wir als Kinder und Jugendliche gelernt haben, uns in der äußeren Welt zurecht zu finden. Aber wie bekommt man Klarheit über sein Innerstes? Für mich führte der Weg über eine spirituelle Schule für Erwachsene, die Ridhwan-Schule, die eine aufgeklärte interreligiöse Spiritualität lehrt und zutiefst an dem Geheimnis des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Seele interessiert ist. Seit einigen Jahren arbeite ich dort im Rahmen meiner zeitlichen Möglichkeiten auch als Lehrer. 

Sie sind also zugleich Unternehmer, Philanthrop und ein spiritueller Mensch. Wie vereinen Sie diese drei Welten? 

Diese Welten müssen nicht vereint werden – sie gehören zusammen! Die Trennung in Innen und Außen ist nur scheinbar. Wir können das allerdings oft nicht erkennen, weil unsere Erziehung und Bildung darauf nicht ausgelegt sind. Und doch suchen eigentlich alle Menschen nach intensiven Erfahrungen, die sich in ihrem tiefsten Inneren abspielen - sei es in der Natur, beim Sport, bei erfüllender Arbeit, in der Kunst oder in menschlichen Beziehungen. 

Die gegenwärtige Krise wird zu Ende gehen, aber der Wandel wird sich fortsetzen. Worauf hoffen Sie? Worauf können wir hoffen? 

Wenn die Hoffnung, wie schon der große Aufklärer Immanuel Kant postulierte, mit Wissen und Tun einhergeht, denke ich, dass wir an der gegenwärtigen Herausforderung wachsen werden. Wir merken, dass die Menschheit weltweit in einem Boot sitzt, dass sie Probleme nur gemeinsam lösen kann. Es gibt eine starke Bewegung hin zur globalen Verantwortungsübernahme – trotz aller Rückschläge. Ich bin sicher: Wir können weiter gemeinsam lernen, wir können erkennen, was richtig ist, und wir können danach handeln.