Interview

„Der Schlüssel, um Demokratie zu verbessern, ist leicht zugängliches Wissen“

Bröckelnde Demokratien und immer mehr Unterstützung für autoritäre Werte: Die globale Demokratie steht vor tiefgreifenden Herausforderungen. Seema Shah von International IDEA möchte jene unterstützen, die sie besser machen wollen – mit einem Tool, das monatliche Updates über den Zustand der Demokratie in 173 Ländern gibt. 

Text
Sabine Fischer
Bilder
Anita Back
Datum
20. März 2023

International IDEA forscht zum Status von Demokratien auf globaler Ebene. Was sind die größten Entwicklungen, mit denen Demokratien derzeit konfrontiert sind?  

Seema Shah: Unser Bericht vom November 2022 zeigt, dass Demokratien weltweit in besorgniserregendem Maße zurückgehen. In den letzten zehn Jahren hat sich die Welt, in der wir leben, drastisch verändert: ein drohender Atomkrieg, die Klimakatastrophe und Protestbewegungen auf der ganzen Welt, die zeigen, dass Menschen es satthaben, sich mit ungelösten Ungleichheiten abzufinden. Doch unsere Daten zeigen: Die Demokratie konnte mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten.

Wir messen 116 Indikatoren entlang von fünf Inhaltsgruppen wie Grundrechten, Kontrollinstanzen für Regierungen oder Beteiligungsmöglichkeiten. 2021 ist in 52 Ländern mindestens einer dieser Werte so drastisch gesunken, dass die Demokratie brüchig wird – ein Jahrzehnt davor war das nur in 12 Ländern so. Das sind über 300% mehr Demokratien, die an Boden verlieren. Und was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass gleichzeitig die Unterstützung für autoritäre Werte zunimmt. Laut der World Values Survey ist eine Mehrheit von Menschen der Meinung, dass es gut ist, starke Führer zu haben, die sich nicht um Parlamente oder Wahlen kümmern müssen. Das war vor einigen Jahren anders. 

Zur Person

Seema Shah

leitet den Bereich Democracy Assessment bei International IDEA. Dieser bringt alle zwei Jahre den Bericht „Global State of Democracy“ heraus. Außerdem beschäftigt sie sich mit Themen wie Gewalt bei Wahlen, Medienentwicklung und forscht zu Menschenrechten.  

International IDEA hat den Democracy Tracker entwickelt, ein Instrument, das Daten über den Zustand verschiedener Demokratien weltweit sammelt und bereitstellt. Was ist die Idee hinter diesem Tracker? 

Der Democracy Tracker bietet monatliche Updates zum Stand der Demokratie auf Länderebene in allen 173 Ländern, die wir abdecken. Er nimmt insbesondere Ereignisse in den Fokus, die das Potenzial haben, den Status quo der Demokratie in einem Land zu verändern, und erklärt, wie diese sich auf bestimmte Aspekte der Demokratie auswirken. Das erleichtert es politischen Entscheidungsträgern, gezielte Entscheidungen zu treffen. Oder Akteuren wie zivilgesellschaftlichen Organisationen, ihre Agenda zu stützen, indem sie zum Beispiel Entwicklungen zu Themen wie Menschenrechten in ihren Ländern nachverfolgen können.
 

„Wir erleichtern es politischen Entscheidungsträger:innen, gezielte Entscheidungen zu treffen.“

Zitat vonSeema Shah
Zitat vonSeema Shah

Woher stammen die Informationen, die der Tracker seinen Nutzer:innen bereitstellt?

Jeden Monat analysiert unser Team bei International IDEA Daten eine Vielzahl von Quellen mithilfe von Tools wie der abo-basierten Plattform „Nexus News Desk“ und GDELT, einem Dienst, der Medienberichte, Berichte von Expertenorganisationen und UN-Berichte bündelt. Einige der Ereignisse, die wir in den Tracker aufnehmen, haben die meisten Menschen schon in den Nachrichten verfolgt, wie das Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Aber die Ereignisse, die den Tracker am hilfreichsten machen, sind Geschehnisse auf Länderebene, von denen man außerhalb des Landes eher nichts erfährt. Der Oberste Gerichtshof in Sri Lanka hat zum Beispiel vor einigen Monaten den ehemaligen Präsidenten dazu verurteilt, Entschädigungen in Millionenhöhe an die Familien der Opfer der Bombenanschläge von 2019 zu zahlen. Es war das erste Mal, dass ein Gericht die Schuld der Regierung anerkannte.

Seema Shah spricht auf der Veranstaltung „Zur Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa“ der Robert Bosch Stiftung in Berlin.

Seema Shah spricht auf der Veranstaltung „Zur Zukunft der Demokratie in Deutschland und Europa“ der Robert Bosch Stiftung in Berlin.

Wie können Tools wie der Democracy Tracker Prozesse unterstützen, die den Zustand von Demokratien verbessern wollen?

Es ist unmöglich für eine einzelne Person oder Organisation, ständig den Überblick darüber zu behalten, was auf der ganzen Welt geschieht. Tools wie der Democracy Tracker sind ein kleiner Schritt, um diese Aufgabe zu erleichtern. Wir bieten Regierungen oder Organisationen, die Demokratie fördern wollen, einen Rahmen, der Demokratie einerseits erstmal definiert und andererseits in verständliche Kategorien herunterbricht. Gerade jetzt, wo die Demokratie in den internationalen Fokus gerückt ist, glauben wir, dass solche Tools, die Informationen aufgreifen und leicht zugänglich machen, der Schlüssel sein werden, um herauszufinden, was wir anders machen müssen, um die Demokratie in Zukunft zu stärken.

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So fördern wir das Projekt

International IDEA schließt die Lücke zwischen Forschung, Politikgestaltung und Demokratieförderung. Wir unterstützen International IDEA dabei, Plattformen aufzubauen, die Unterstützer:innen globaler Demokratie mobilisieren, informieren und miteinander vernetzen.

So fördern wir das Projekt

2021 rief US-Präsident Biden den ersten Demokratiegipfel aus, der sich mit dieser Situation befasste.  Welche Auswirkungen hatte er auf die Entwicklung von Demokratien weltweit?

Er hat die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das Thema Demokratie gelenkt, was Demokratisierungsbemühungen weltweit unterstützt hat. Außerdem hat der Gipfel viele Teilnehmende dazu gebracht, die eigene Demokratie innerhalb sowie den Status von Ländern außerhalb der eigenen Grenzen kritisch zu reflektieren. Er hat zudem zahlreiche Partnerschaften, gemeinsame Projekte und Analysen ermöglicht. International IDEA hat zum Beispiel die „Global Democracy Coalition“ ins Leben gerufen, die Hunderte von Organisationen aus der ganzen Welt zusammenbringt, um über die Themen des Gipfels zu sprechen. Wir wollen die Energie des Gipfels nutzen und die Dinge weiter vorantreiben. 

Wie unterstützt der Democracy Tracker den zweiten Demokratiegipfel, der im März 2023 stattfinden wird?

Erstens kann er dazu beitragen, die Agenda auf globaler Ebene festzulegen, da er hilft, Muster im Laufe der Zeit zu erkennen, so dass man sehen kann, welche Prioritäten gesetzt werden sollten. Aus den Daten wird zum Beispiel deutlich, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung in allen Regionen ein großes Problem darstellt. Zweitens können Organisationen und Regierungen die Themen herausfiltern, die für ihre Agenda seit dem ersten Gipfel wichtig waren, indem sie z. B. nach Veranstaltungen zur Geschlechterneutralität im letzten Jahr suchen. Und zu guter Letzt kann der Tracker dabei helfen, einige der schwerwiegenden Ereignisse einzuordnen, die seit dem letzten Sommer passiert sind. Der Tracker kann für die Zukunft hilfreich sein.

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