Susanne Melin vom Bosch Health Campus erklärt, warum das deutsche Gesundheitssystem Prävention nicht weiter als Privatangelegenheit behandeln sollte, wieso Angst in Sachen Vorsorge ein schlechter Ratgeber ist und wie das digitale Angebot Sundi den Zugang zu Gesundheit gerechter macht.
Laut dem World Heart Report ließen sich bis zu 80 Prozent aller Herzinfarkte und Schlaganfälle durch bessere Prävention vermeiden. Dieses Potenzial kann man auch so deuten, dass die Kompetenz für Vorsorge bisher nicht allzu ausgeprägt ist. Woran liegt das?
Susanne Melin: Innerhalb des Gesundheitssystems gilt nach wie vor: Finanziert wird in erster Linie die Behandlung bereits manifester Krankheiten, nicht aber die Erhaltung von Gesundheit. Prävention wird nicht belohnt.
Was genau verstehen Sie unter Prävention?
Melin: Ich meine damit weniger die Früherkennung, die viele von uns von klassischen Vorsorgeterminen kennen, sondern vielmehr alles, was dazu beiträgt, unsere Gesundheit zu stärken und Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. Das beginnt bei Bewegung, gesunder Ernährung, erholsamem und ausreichendem Schlaf sowie bei der Fähigkeit zur Stressbewältigung – aber auch bei Bildung, guten Arbeitsbedingungen und sozialer Sicherheit. Prävention heißt, die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass Gesundheit überhaupt möglich ist. Genau das wird jedoch kaum als Aufgabe des Gesundheitssystems verstanden.
Aber man kann nicht gerade sagen, dass in der Gesellschaft ein zu geringes Bewusstsein für Krankheiten herrscht. Krebs ist die Krankheit, vor der die Deutschen am meisten Angst haben. Wie sieht es hier mit dem Potenzial von Vorsorge aus?
Melin: Bei Krebserkrankungen geht man davon aus, dass rund 40 Prozent davon vermeidbar wären. Wichtig ist mir immer dazuzusagen: Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 60 Prozent eben nicht vermeidbar sind. Aber der Anteil vermeidbarer Krebserkrankungen bleibt erheblich.
Wenn die Zahlen so eindeutig sind: Wieso lahmt dann der Vorsorgewille?
Melin: Weil Prävention kein unmittelbares Erlebnis ist. Wenn ich eine Tablette nehme, spüre ich Wirkung. Wenn ich mich gesund ernähre oder bewege, passiert kurzfristig erst einmal nicht viel – außer dass ich Zeit, Geld und Energie aufwende. Das gilt nicht nur aus individueller Perspektive, sondern auch aus der Sicht der Krankenversicherungen oder politischen Entscheidungsträger:innen. Die Zusammenhänge sind komplex, und der Effekt zeigt sich erst auf lange Sicht. Das drückt auf die Motivation.
Braucht es dafür stärkere Impulse von außen?
Melin: Wir bräuchten zum einen Änderungen innerhalb des Gesundheitssystems – also, dass tatsächlich ein Mehr an Gesundheit zum Ziel wird, nicht die Behandlung möglichst vieler Erkrankungen. Das ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Wenn wir gemeinsam diesem Systemziel folgen, muss auch die Vergütung an Gesundheitszugewinne gekoppelt werden – und nicht nur wie bisher an durchgeführte Behandlungen und Untersuchungen, auch wenn diese wie bei Impfungen oder Maßnahmen zur Früherkennung durchaus zur Gesunderhaltung beitragen können.
Aber Gesundheit wird auch im weiteren Sinne durch Lebensbedingungen geprägt – durch Bildung, Wohnen, Arbeit, Umwelt. Wenn man Prävention so breit begreift, wie wir am Bosch Health Campus es tun, müssten viele Instanzen aktiv werden. Gesundheit gehört in alle Politikfelder – nach dem Prinzip „Health in All Policies“.
„Was das Bewusstsein für Prävention angeht, sind uns andere Länder zum Teil deutlich voraus. In Skandinavien gibt es das Ziel, das Geld im Gesundheitssystem langfristig zu gleichen Teilen für Prävention und Behandlung manifester Erkrankungen auszugeben.“
Wie sieht es in anderen Ländern aus?
Melin: Alle stehen vor der Herausforderung, dass die Menschen älter werden, chronische Erkrankungen zunehmen und die Fachkräfte knapper werden. Was das Bewusstsein für die Bedeutung von Prävention angeht, sind uns andere aber zum Teil deutlich voraus.
Ein gutes Beispiel ist Skandinavien. In den nordischen Ländern haben sich bereits 2019 zahlreiche Entscheidungsträger:innen aus Gesundheitsorganisationen zur Initiative Nordic Health 2030 zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist ambitioniert: Im Gesundheitssystem soll das Geld langfristig zu gleichen Teilen für Prävention und Behandlung manifester Erkrankungen ausgegeben werden. Bei uns gilt dagegen Vorsorge in erster Linie als Privatangelegenheit. Damit erreicht man aber die Bevölkerungssegmente sehr schlecht, um deren Gesundheit es sowieso nicht gutsteht.
Welche sind das?
Melin: Menschen, die in prekären Situationen leben, sind häufiger krank, weil sie weniger Handlungsspielraum haben. Wer in Schichtarbeit steckt, sich um Angehörige kümmert oder mit mehreren Jobs über die Runden kommen muss, hat kaum Ressourcen, sich um Vorsorge zu kümmern. Wer Angst vor Jobverlust hat, geht trotz Krankheit zur Arbeit. Chronischer Stress schwächt nicht nur das Immunsystem, sondern beeinflusst auch Entscheidungen. Wer unter Druck steht, greift schneller zu ungesunden, aber kurzfristig entlastenden Verhaltensweisen: Fast Food, zu wenig Schlaf, Rauchen, Alkohol. Das hat nichts mit Unvernunft zu tun, sondern mit Überforderung. Und diese Überforderung zeigt sich auch im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen. Zu Recht spricht man in diesem Zusammenhang von Infodemie.
Was ist damit gemeint?
Melin: Wir sind ständig von Gesundheitsinformationen umgeben, aber ohne Orientierung. Überall prasseln Tipps, Warnungen und angebliche Wundermethoden auf uns ein. Das erzeugt kein Wissen, sondern Verwirrung. Soziale Medien beschleunigen das. Wer Angst oder Hoffnung schürt, bekommt Reichweite. Das Problem ist also nicht zu wenig Information, sondern zu wenig Fähigkeit, sie zu bewerten. Das betrifft vor allem Menschen mit geringerer Bildung. Und ältere Menschen haben generell größere Probleme, durch die Informationsfluten im Netz zu navigieren. Genau hier setzt unser Angebot Sundi an.
Sundi ist eine gemeinsame Initiative des Bosch Health Campus und der Charité – Universitätsmedizin Berlin in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen des Karolinska Institutet Stockholm. Die Plattform stellt Informationen zur Gesundheit einfach und verständlich dar. Sie liefert mit Hilfe eines Chatbots schnelle und zuverlässige Antworten auf individuelle Gesundheitsfragen. Die Empfehlungen sind praktisch und lassen sich leicht in den Alltag integrieren, wie zum Beispiel Gesundheitstipps, die auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Was ist Sundi?
Melin: Sundi ist ein webbasiertes Präventionsangebot, das Menschen ab 55 Jahren dabei unterstützt, gesünder zu leben – besonders jene, die von herkömmlichen Gesundheitsprogrammen oft nicht erreicht werden. Es geht um alltagsnahe Themen wie Ernährung, Bewegung, Schlaf, Stressbewältigung sowie den Umgang mit Suchtmitteln. Wir wollen Menschen befähigen, ihr Wohlbefinden selbst in die Hand zu nehmen.
Wieso richtet sich Sundi vor allem an Menschen zwischen 55 und 70?
Melin: In diesen Jahren werden die Weichen gestellt, wie gesund man die folgenden Jahrzehnte verbringt. Viele chronische Erkrankungen entstehen in genau diesem Zeitraum – oft unbemerkt. Gleichzeitig ist diese Generation viel digitaler, als man denkt. Uns war wichtig, ein Angebot zu schaffen, das diese Zielgruppe ernst nimmt: in ihrer Lebensrealität, mit ihren Fragen und Möglichkeiten.
Wer steckt hinter dem Projekt?
Melin: Sundi ist eine gemeinsame Initiative des Bosch Health Campus in Stuttgart und der Berliner Charité in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen des Karolinska-Instituts in Stockholm. Alle drei Institutionen vertreten hohe wissenschaftliche und ethische Standards. Als Partner verbindet uns das Ziel, Prävention und Gesundheitsförderung auf eine neue, sozial gerechtere Basis zu stellen. Die Charité bringt ihre wissenschaftliche und klinische Expertise ein, das Karolinska-Institut seine internationale Forschungskompetenz, und wir am Bosch Health Campus konzentrieren uns auf die Verbindung von Versorgung, Wissenschaft und gesellschaftlicher Verantwortung.
Ein europäisches Modellprojekt?
Melin: Das Angebot trägt bereits im Namen seine Herkunft: „Sund“ ist Schwedisch und bedeutet „gesund“. Sundi ist derzeit in deutscher und englischer Sprache verfügbar. Für 2026 ist geplant, das Angebot um weitere Sprachen zu erweitern.
Digitale Angebote zum Thema Gesundheit gibt es viele. Was macht Sundi anders?
Melin: Sundi zeichnet sich durch drei zentrale Aspekte aus. Erstens ist es ein gemeinwohlorientiertes und vertrauenswürdiges Angebot. Wir legen größten Wert auf Qualitätssicherung: Alle Inhalte stammen aus geprüften wissenschaftlichen Quellen. Vor der Verwendung werden sie von einem wissenschaftlichen Beirat freigegeben und anschließend redaktionell so aufbereitet, dass sie verständlich und handlungsorientierend sind.
Zweitens ist Sundi deutlich stärker als bisherige Angebote auf individuelle Fragen ausgerichtet. Herzstück ist hier unser virtueller Gesundheitsassistent. Dieser Chatbot basiert auf künstlicher Intelligenz, greift aber ausschließlich auf geprüfte Inhalte zu. Der Dialog ersetzt die klassische Belehrung – Lernen geschieht im Gespräch, und die Nutzer:innen können ihre ganz persönlichen Fragen stellen.
Und der dritte Aspekt?
Melin: Wir stellen nicht nur Informationen zur Verfügung, sondern auch Tools, die Menschen ganz gezielt bei Verhaltensänderungen unterstützen. Der Schritt vom Wissen zur Umsetzung ist nicht leicht. Neben den Informationsmodulen bietet Sundi darum auch ein Goal-Setting-Tool, mit dem persönliche Gesundheitsziele definiert und verfolgt werden können.
Wie funktioniert dieses Tool?
Melin: Es unterstützt die Nutzer:innen dabei, aus vagen Vorsätzen klare, realistische Ziele zu machen. Viele sagen zum Beispiel: „Ich will mich mehr bewegen.“ Das ist gut gemeint, aber zu unspezifisch. Wir kennen es: Man setzt sich zu Neujahr ein paar Vorsätze, spätestens ab Februar verwässern diese, und im Sommer sind sie vergessen. Das Goal-Setting-Tool hilft, aus vagen Absichten präzise Pläne zu machen, etwa: „Ich gehe dienstags, donnerstags und samstags jeweils 30 Minuten spazieren.“ Der Chatbot begleitet diesen Prozess, erinnert, motiviert und bietet Alternativen, wenn etwas dazwischenkommt. So entsteht Schritt für Schritt eine neue Routine.
Wieso reicht eine reine Wissensvermittlung nicht?
Melin: Angstbotschaften – „Du isst zu ungesund, schläfst schlecht und bewegst dich zu wenig“ – führen meist zu Schuldgefühlen und deshalb zu Abwehr. Positive Ziele hingegen motivieren. Fachleute aus Psychologie, Verhaltenswissenschaft und Kommunikation haben das Konzept gemeinsam entwickelt. Wir wollen Menschen befähigen, nicht belehren.
Wohin soll sich Sundi in den kommenden Jahren entwickeln?
Melin: Wir sehen Sundi als Modellprojekt dafür, wie digitale Prävention künftig aussehen kann – evidenzbasiert, zugänglich und sozial gerecht. Im nächsten Schritt geht es jetzt vor allem darum, Sundi bekannter machen – und zwar auch und gerade bei jenen Gruppen, die bislang von Vorsorgeangeboten kaum profitieren: Menschen mit geringerem Einkommen oder Bildungsstand.
Was bedeutet das für die Zukunft der digitalen Gesundheit insgesamt?
Melin: Wenn wir digitale Werkzeuge so gestalten, dass sie Menschen stärken, statt sie zu überfordern, liegt darin ein enormes Potenzial. Sundi zeigt, dass Technologie empathisch eingesetzt werden kann. Sie kann Wissen zugänglich machen, Motivation fördern und Vertrauen schaffen – vorausgesetzt, sie bleibt dem Menschen verpflichtet. Viel ist in letzter Zeit davon die Rede, dass Digitalisierung gesellschaftliche Spaltung verstärkt. Mit Sundi wollen wir zeigen, dass es auch anders geht: dass digitale Angebote Menschen verbinden, Wissen zugänglich machen und gesundheitliche Ungerechtigkeiten abbauen können.