Interview mit Robert Bosch Academy Fellow Pierre Hazan

„Das Thema Kollaboration ist äußerst heikel“

Pierre Hazan ist leitender Berater beim Centre for Humanitarian Dialogue, einer der wichtigsten Organisationen für Vermittlung in bewaffneten Konflikten. Er verfolgt den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und konzentriert sich auf „Transitional Justice“. Hier spricht er über das heikle Thema der Kollaboration zwischen Ukrainern und Russen und das Getreideabkommen. Außerdem analysiert Hazan, wie Putin den Westen täuschen konnte.

Text
Dr. Tim Tolsdorff
Bilder
Claudia Hagen/Robert Bosch Stiftung
Datum
26. April 2023
Lesezeit
5 Minuten

Mitte März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof ICC einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ihm werden die unrechtmäßige Deportation und Überstellung von Kindern aus der Ukraine nach Russland vorgeworfen. Ist es überhaupt möglich, das Staatsoberhaupt einer Atommacht strafrechtlich zu belangen?

Der Internationale Strafgerichtshof kann jeden anklagen, der ein internationales Verbrechen begangen haben soll. Aber der ICC verfügt nicht über eine internationale Polizeitruppe, also wird niemand Wladimir Putin in Russland verhaften. Was aber wird passieren, wenn Präsident Putin in eines der 123 Länder reist, die das Römische Statut des ICC ratifiziert haben? Theoretisch sind sie verpflichtet, ihn zu verhaften. Werden sie das auch tun? Es wäre ein wichtiger Test für die Glaubwürdigkeit des ICC. Sie erinnern sich vielleicht, dass der ehemalige sudanesische Präsident Omar al-Bashir nach Südafrika reiste und nicht verhaftet wurde. Ungarn hat bereits erklärt, dass man Putin nicht festnehmen werde. Und viele Länder des Globalen Südens scheinen von der Anklage nicht begeistert zu sein.

Welche Herausforderung stellt die Anklage gegen Putin für einen möglichen Friedensprozess dar?

Es ist schwieriger, direkt mit jemandem zu verhandeln, gegen den Anklage erhoben wurde. Der serbische Präsident Slobodan Milosevic war 1995 noch nicht angeklagt. Deshalb konnte er in die USA reisen und an den Friedensverhandlungen in Dayton teilnehmen. 
Aus juristischer Sicht bieten zwei Artikel der Statuten des Internationalen Staatsgerichtshofs einen gewissen Spielraum im Spannungsverhältnis zwischen dem Einsatz für Frieden und dem Erreichen von Gerechtigkeit. Artikel 16 besagt, dass der UN-Sicherheitsrat durch Annahme einer Resolution jede Untersuchung oder Strafverfolgung einstellen kann. Nach Artikel 53 kann der Staatsanwalt die Ermittlungen oder die Strafverfolgung einstellen, wenn er der Auffassung ist, dass dies nicht im Interesse der Opfer oder der Justiz liegt.  Aber würde ein Staatsanwalt eine solche Entscheidung treffen? Es ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. 

Über Pierre Hazan

Pierre Hazan ist leitender Berater des Centre for Humanitarian Dialogue (HD), einer der wichtigsten Organisationen für Vermittlung in bewaffneten Konflikten weltweit. Er hat für das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte und mit den Vereinten Nationen auf dem Balkan zusammengearbeitet. Er war Mitglied der Internationalen Kontaktgruppe für den Baskenlandkonflikt, die zur Beendigung der politischen Gewalt im Baskenland beitrug, und hat in Konfliktgebieten weltweit gearbeitet. Hazan war Stipendiat an renommierten Universitäten und Thinktanks wie der Harvard Law School. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, unter anderem „Negotiating with the Devil“. Im Jahr 2022 wurde Pierre Hazan Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy in Berlin.

Welche neuen Akteure sind in diesem Konflikt als Vermittler aufgetreten – und warum?

Vor allem die Türkei, aber auch Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate haben die Rolle des Vermittlers übernommen. Die beiden westlichen Länder, die normalerweise als Vermittler:innen auftreten, wurden nicht um Hilfe gebeten. Das ist nicht überraschend: Norwegen ist NATO-Mitglied und die Schweiz hat ebenfalls Sanktionen gegen Russland beschlossen. 
Die Türkei, die Vereinten Nationen und andere Akteure, darunter die Organisation, mit der ich zusammenarbeite, das Centre for Humanitarian Dialogue, trugen maßgeblich zum Erfolg des Getreideabkommens zwischen der Ukraine und Russland bei. Auch die Afrikanische Union war ein wichtiger Akteur, da Afrika bei weitem der wichtigste Getreideimporteur beider Länder ist. In neun Monaten konnte die Ukraine rund 30 Millionen Tonnen Getreide exportieren. Dadurch konnte der Preis niedrig gehalten werden. Dieses Abkommen ist nun jedoch in Gefahr, weil Russland der Meinung ist, es komme zu schlecht dabei weg. Es gab neue Gespräche, um die Ausfuhr von Ammoniak aus Russland zu erleichtern – alles in der Hoffnung, das Getreideabkommen aufrechtzuerhalten.

In Politik und Öffentlichkeit wird immer wieder darüber diskutiert, ob man mit Wladimir Putin sprechen soll oder nicht. Was ist Ihr Standpunkt als Vermittler?

Die Bedingungen müssen stimmen. Eine dritte Partei kann nur dann etwas Sinnvolles tun, wenn es ein gemeinsames Interesse zwischen den Kriegsparteien gibt. Leider sieht es so aus, dass wir noch nicht so weit sind. Da die Ukraine ihre territoriale Integrität wiedererlangen will und Russland Gebiete annektiert hat, sind produktive Gespräch heute nahezu unmöglich. Solange sich die Situation nicht ändert, sei es militärisch oder politisch, sehe ich hier keinen Weg zu Gesprächen.

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Dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine gingen jahrelange erfolglose Verhandlungen voraus. Wie konnte es Wladimir Putin gelingen, die Vertreter des Westens zu täuschen?

Der französische Philosoph Montesquieu war der Überzeugung, dass der Handel die Menschen zivilisiert und sie so weniger zu Gewalt neigen. Ich denke, die westliche Welt und insbesondere die Europäer glaubten, dass die Wirtschaft wesentlicher Treiber für die Beziehungen zu Russland sein würde. Präsident Putin war jedoch offensichtlich anderer Meinung. Blicken wir zurück auf die Münchner Sicherheitskonferenz von 2007: Dort sagte Putin sehr deutlich, dass er eine andere Weltordnung anstrebt. Die Europäer aber glaubten, dass der Status quo erhalten bliebe, wenn sie russisches Gas gegen harte Währung kauften. Ein Jahr später griff Russland Georgien an – die Europäer schenkten ihm immer noch keine Beachtung. Dann griff Russland militärisch in Syrien ein, 2014 folgten die Krim und der Donbass. Wladimir Putin hat definitiv einige Botschaften gesendet. Aber die Europäer wollten sie nicht hören, weil sie wie Montesquieu dachten, dass die Wirtschaft nach wie vor der hauptsächliche Treiber in unseren Beziehungen mit Russland sei.

Sie waren in den letzten Jahren viel in der vom Krieg gezeichneten Ukraine tätig. An welchen Projekten haben Sie dort gearbeitet?

Ich bin vor allem auf Fragen der Versöhnung nach dem Einsatz massiver Gewalt spezialisiert. Dieser Bereich wird oft als „Transitional Justice“ oder „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet. Dabei geht es darum, Instrumente wie Wahrheitskommissionen, Wiedergutmachungsprogramme, Amnestiegesetze und weitere einzusetzen, um einer Gesellschaft zu helfen. Das Ziel lautet stets, aus einem gewaltsamen einen politischen Konflikt zu machen. In der Ukraine gab es nach dem Konflikt von 2014 viele Diskussionen und Ideen zu diesen Themen im Parlament und in zivilgesellschaftlichen Gruppen. Seit dem 24. Februar 2022 hat sich die Situation natürlich dramatisch verändert.

Pierre Hazan

Mediator Pierre Hazan spricht im Interview mit Tim Tolsdorff über die Haltung Putins und die Situation in der Ukraine.

Sie haben auch mit der Sviatohirsk-Gruppe in der Ostukraine zusammengearbeitet. Können Sie uns Einblicke in dieses Projekt geben?

Neben anderen Initiativen hat meine Organisation, das Centre for Humanitarian Dialogue, vor dem 24. Februar mit führenden Vertretern der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet, die auf beiden Seiten der Konfliktlinien im Donbass leben. Das Ziel lautete damals, den Boden für einen Versöhnungsprozess in einem zukünftigen, wiedervereinigten Donbass zu bereiten. Wir benannten diese Gruppe nach der Stadt, in der die Treffen stattfanden – Sviatohirsk. Natürlich ergab sich nach dem Februar 2022 eine neue Situation. Kürzlich führten die verbliebenen Mitglieder der Gruppe 16 ausführliche Interviews. Die Interviewpartner:innen stammten einerseits aus Gebieten unter ukrainischer Kontrolle, andererseits aus jenen Gebieten des Landes, die nach dem 24. Februar vorübergehend besetzt wurden. Sie sprachen mit ihnen über ihre lebensverändernde Entscheidung: Sollten sie unter russischer Besatzung bleiben oder ihre Heimat verlassen?

Wie sehen die Ukrainer, mit denen Sie gesprochen haben, das Thema der Kollaboration mit den Russen in den besetzten Gebieten?

Die Frage der Kollaboration ist immer äußerst heikel. Wir wissen, was nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Ländern geschah, als sich das Volk an den „Kollaborateuren“ rächte. Während der Besatzung waren die Menschen in einer schrecklichen Situation. Um zu überleben, waren sie manchmal gezwungen, mit den Besatzern zu kollaborieren. Manche stellten sich aber auch freiwillig auf die Seite der Besatzer. Das ist nicht immer eindeutig abzugrenzen. 

Nach internationalem Recht können Menschen ihrer Arbeit, die sie vor der Besetzung hatten, nachgehen, ohne als „Verräter“ oder „Kollaborateur“ zu gelten. Die Situation in der Ukraine ist noch komplexer: Russland annektierte einige Gebiete und führte eine Politik der „ Passportisation“ ein. Das heißt: Tausende von Menschen erhielten russische Pässe. Außerdem wurde vorgeschrieben, dass Lehrer nun den russischen Lehrplan anwenden müssen. Das hat viele Menschen in eine schwierige Situation gebracht. Was passiert, wenn die Ukraine eines Tages diese Gebiete kontrolliert? Wer wird dann bestraft? Wem wird Amnestie gewährt und unter welchen Bedingungen? Die Geschichte lehrt uns eins: Es ist in Situationen wie diesen notwendig ist, den Boden zu bereiten für den Aufbau einer friedlicheren Gesellschaft.

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