An der Ketteler-Grundschule in einem sozial schwachen Stadtteil von Bonn kann man gut beobachten, wie Schulen der wachsenden Heterogenität von Schüler:innen gerecht werden können. Um für die Zukunft zu lernen, brauchen Kinder drei Dinge: Unterstützung durch professionelle Fachkräfte, individuelle Lernziele und – vielleicht das Wichtigste – ein gutes Schulklima.
Hatice knobelt vor dem Computer an einer Rechenaufgabe. Auf dem Bildschirm ist eine Unterwasserwelt zu sehen. Ein dicker Mondfisch schwimmt ins Bild. Auf seinem Bauch steht: „1T+8H+0Z+5E“. Was soll das denn heißen? Die Zehnjährige dreht sich um und sagt: „Ist doch klar, ein Tausender, acht Hunderter, null Zehner und fünf Einer.“ Hatice tippt das Ergebnis ins Kästchen. Richtig! Und schon schwimmt die nächste Aufgabe ins Bild …
Hatice besucht die Bonner Kettelerschule und ist eines von 25 Kindern in der jahrgangsübergreifenden Lernfamilie der „Igel“. Es ist kurz vor halb zehn, die Igel haben „freie Lernzeit“ – und Hatice hat sich für Mathe entschieden. Die anderen Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren sitzen allein oder in Gruppen im Klassenraum und arbeiten konzentriert. Der Klassenlehrer und die Sonderpädagogin gehen herum und schauen, wer Fragen hat. Außerdem sind zwei Integrationsassisten:innen im Raum. Sie unterstützen Kinder mit Förderbedarf beim Lernen. Mitten in der Stunde wird ein Junge von einer Logopädin abgeholt, um nebenan Sprachförderung zu erhalten. Ganz normaler Alltag an einer nicht normalen Schule.
Im dritten Pandemie-Schuljahr ist im deutschen Bildungsbetrieb viel die Rede von Krise und Lernrückständen. Laut dem IQB-Bildungstrend 2021 zeigen Viertklässler einen Kompetenzrückgang im Vergleich zum Jahr 2016, der beim Lesen einem Drittel eines Schuljahres entspricht und im Fach Mathematik einem Viertel eines Schuljahres. Schon vor Corona litt fast die Hälfte der Schüler:innen in Deutschland an Schulstress. Durch Schulschließungen und Homeschooling hat sich der Druck verstärkt. Gleichzeitig geht die Schere zwischen Kindern aus bildungsnahen Familien und jenen, die zu Hause wenig Unterstützung bekommen, immer weiter auseinander. An der Kettelerschule, einer inklusiven Gemeinschaftsgrundschule im sozial schwachen Bonner Stadtteil Dransdorf, herrscht zu Beginn des Schuljahrs trotzdem gute Stimmung bei den Schüler:innen und dem pädagogischen Team. Was kann man von dieser Schule lernen?
Ginge es nach der Grundschule, die Hatice vorher besuchte, wäre sie jetzt auf einer Förderschule. Am Ende der ersten Klasse teilte man ihren Eltern mit, Hatices Sprachfähigkeit sei „zu schwach“ für eine Grundschule. „Mein Mann und ich waren damit nicht einverstanden“, erinnert sich ihre Mutter Raba Corevska, die aus Nordmazedonien stammt und seit mehr als zehn Jahren in Deutschland lebt. „Wir haben uns gefragt, wieso sie Hatice nicht eine Chance geben.“ Die Eltern wandten sich an die Kettelerschule und bekamen einen Platz für ihre Tochter. Dass Hatice das Lernen hier leichter fällt, würde man nicht unbedingt erwarten, denn die Kettelerschule ist das, was als „Brennpunktschule“ bezeichnet wird: Ein Drittel der 230 Grundschüler:innen hat einen diagnostizierten Förderbedarf, für mehr als die Hälfte der Kinder ist Deutsch die zweite Sprache. Rund 70 Prozent der Familien gelten als einkommensschwach, bildungsfern und von Armut betroffen. „Hatice hat hier eine großartige Entwicklung gemacht“, sagt ihr Klassenlehrer Mark Winter stolz. Sie ist sogar zur Klassensprecherin gewählt worden.
Wie in den anderen Lernfamilien der Kettelerschule ist auch bei den Igeln jeder Tag klar strukturiert. Es gibt Lerneinheiten, in denen die Kinder selbst wählen würfen, woran sie arbeiten, und solche, die auf Fächer wie Mathe, Englisch oder Deutsch festgelegt sind. Auf jede Lerneinheit folgt immer eine Pause oder eine Essenszeit, in der die Kinder sich frei bewegen können.
Es ist kurz nach zehn. Hatice ist fertig mit Mathe. Als Nächstes übt sie Lesen. Ihre Buntstifte sind auffallend sorgfältig gespitzt. Das mache sie immer abends zu Hause, sagt sie mit ernstem Gesichtsausdruck. Was ihr an der Schule am meisten Spaß macht? „Ich liebe Lesen und Schreiben“, sagt sie, „gerade lese ich ‚Gregs Tagebuch‘ (ein amerikanischer Comicroman, Anm. d. Red.) auf Englisch.“
„Eine gute Schule erkennt man vor allem daran, dass die Kinder in jeder Situation das Gefühl bekommen, dass sie hierhin gehören“, sagt Thorsten Bohl, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen und künftiger Juryvorsitzender des Deutschen Schulpreises. Die Kettelerschule hat 2019 den Deutschen Schulpreis gewonnen. „Diese klare und nicht verhandelbare Zugehörigkeit zur Schule macht etwas mit den Kindern.“ Ebenso wichtig sei natürlich die Qualität des Unterrichts. „Gerade für bildungsferne Kinder zählt jede Minute der realen Unterrichtszeit, weil sie neben der Schule wenig Bildungsangebote bekommen“, sagt Bohl.
Einmal in der Woche finden an der Kettelerschule sogenannte Entwicklungskonferenzen statt: Lehrer Mark Winter, Sonderpädagogin Ute Hennig und Erzieherin Nataliya Zagonenko sprechen gerade über eine neue Schülerin, die erst seit wenigen Wochen da ist. Wie geht es ihr? Was braucht sie? Was müssen wir über sie lernen? Schon während der Anmeldungsgespräche im November vor der Einschulung werden die Kinder genau beobachtet und eine so genannte „Diagnostik“ erstellt, die im Schulalltag stets aktualisiert wird: Die Beobachtungen über soziales und emotionales Verhalten, Motorik, Arbeitsverhalten, Wahrnehmung, Kommunikation und Spielverhalten werden in standardisierten, selbst entwickelten Bögen festgehalten. In der Zeile „Aktueller oder akuter Bedarf“ stehen Aspekte wie „Sprachverständnis – Förderbedarf“ oder auch: „getrennte Eltern“. In den Entwicklungskonferenzen bespricht das Team der Lernfamilien regelmäßig alle Themen, die das Kind betreffen, und trifft gemeinsam Entscheidungen: Braucht es Sprachförderung? Oder Ergotherapie? Und was wäre ein realistisches Ziel für den Schüler oder die Schülerin?
An der Kettelerschule werden nicht alle Kinder an demselben Lernziel gemessen, sondern bekommen ein individuelles Lernziel, das ihren Fähigkeiten und Talenten entspricht. An der großen Pinnwand der Igel hängen alle 25 Namen der Kinder, aufgeteilt nach Jahrgängen. Darunter stehen auf Karteikarten die jeweiligen Lernziele. Die Pinnwand sieht unscheinbar aus, hat aber eine große Wirkung.
Eine „integrierte Kombination aus individueller und kriterialer Bezugsnorm“, nennt es der Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl. Er forscht unter anderem zu der Frage, wie deutsche Schulen mit der wachsenden Heterogenität der Schülerschaft umgehen können. Kriteriale Bezugsnormen sind etwa Lernplanziele, die für alle Kinder gelten. Doch je heterogener eine Schülerschaft ist, desto schwieriger wird es, eben solche kriterialen Normen stufenweit zu erreichen. Bohl plädiert dafür, sie mit individuellen Maßstäben zu kombinieren, wie eben an der Kettelerschule. Und das scheint tatsächlich zu funktionieren: Bei den Vergleichsarbeiten (VERA) der dritten Klassen schreiben die Kinder schriftliche Tests. Die Kettelerschule liegt seit einigen Jahren in Mathe im Landesschnitt von Nordrhein-Westfalen. Im Bereich Leseleistung steht die Kettelerschule seit 2011 über dem Landesdurchschnitt. Das ist ein großer Erfolg: Würde man sie ausschließlich mit anderen „Brennpunktschulen“ vergleichen, läge die Schule weit oben in der Tabelle.
An der Kettelerschule wird das Mitspracherecht der Kinder gelebt. In der freien Lernzeit werden die Aufgaben oft nicht durch eine Lehrkraft, sondern durch eine:n Schüler:in verteilt, die:der sogenannte „Kreisleiter:in“. Heute übernimmt die neunjährige Emily diese Rolle – und klingt schon fast wie eine kleine Lehrerin. Mia und Princess, beide im Alter von Zweitklässlerinnen, wollen gemeinsam aus einem Glas Reis Zehnerhaufen abzählen und so das Rechnen üben. Emily ist skeptisch: „Aber klappt das denn mit euch?“, fragt sie. „Ihr seid ja Freundinnen.“ „Doch, das klappt“, sagen Mia und Princess. „Okay, ich gebe euch eine Chance“, entscheidet Emily. Und: Es klappt.
Wer einen Schultag als stille Beobachterin miterlebt, sieht, wie die Kinder durch diese Eigenverantwortung aufblühen. Es gibt auch ein Kinderparlament, in dem die Schüler:innen den Schulalltag mitbestimmen können. „Die Lehrer:innen müssen aushalten, dass es länger dauert. Aber wenn die Kinder Dinge selbst entscheiden, sind sie viel motivierter“, sagt Mark Winter, „und es schult sie darin, gute Entscheidungen zu treffen.“
Gute Stimmung ist nicht nur wichtig im Klassenzimmer, sondern auch im Pädagogik-Team. Die Sonderpädagogin Ute Hennig arbeitet seit 2009 an der Schule und hat Zeiten miterlebt, in der die Motivation der Lehrerschaft am Boden war. „Heute kocht keiner mehr sein eigenes Süppchen, sondern wir entwickeln die Dinge zusammen“, sagt Hennig. Das Motto „Schule statt Klasse“ ist ihr wichtig, weil es betont, dass das multiprofessionelle Kollegium aus Lehrer:innen, Pädagog:innen, Erzieher:innen und Therapeut:innen gemeinsamen Werten, Ideen und Ritualen verpflichtet ist. „Die Menschen kommen gern zur Schule. Wir alle haben das Gefühl: Wir können hier wirklich was erreichen“, sagt Hennig.
Die Kettelerschule ist nicht deswegen erfolgreich, weil sie besonders viel Geld hat oder einen großzügigen Kreis von Unterstützern. Sie muss wie alle anderen Schulen auch um gutes Fachpersonal kämpfen. In der Theorie sollten alle „Brennpunktschulen“ mehrere Lehrkräfte pro Klasse zur Verfügung haben, aber an den meisten Schulen fehlen weniger die Ressourcen, sondern schlicht das Personal. Etwa die Hälfte der Lehr- und Fachkräfte, so fand das Deutsche Schulbarometer heraus, leidet 2022 unter körperlicher oder mentaler Erschöpfung. An deutschen Grundschulen gehen 83 Prozent der Lehrkräfte davon aus, dass sie einigen Schüler:innen nicht die Unterstützung beim Lernen bieten können, die sie brauchen.
Fragt man die Schulleiterin Christina Lang-Winter, wie es der Kettelerschule gelingt, Lehrkräfte, Therapeut:innen und Erzieher:innen langfristig zu binden, spricht sie am liebsten über Haltung: „Bei uns scheint auch im Regen die Sonne.“ Was das konkret heißt? „Wenn ein Kind mir die Tür aufhält, dann sage ich: ‚Oh, das ist aber nett, dass du mir die Tür aufhältst!‘, und schon strahlt das Kind, und das bringt mich zum Strahlen.“
Wichtig sei, immer wieder das Positive zu benennen. Das gelte für alle, Schüler:innen, Lehrkräfte und Eltern.
Tritt man nach diesem Tag an der Kettelerschule auf die laute Straße, fragt man sich, wie es Hatice, Emily, Princess und ihren Mitschüler:innen gehen wird, wenn sie diese schützende Umgebung eines Tages verlassen müssen – weil sie umziehen oder schlicht auf die Gesamtschule oder das Gymnasium wechseln. Lang-Winter kennt diese Gedanken und beruhigt: Die Kettelerschule stelle im Vergleich zu anderen „Brennpunktschulen“ vielen Kindern eine Gymnasialempfehlung aus und arbeite mit einer nahen Gesamtschule gut zusammen. Und vielleicht sei es ja so, dass die Kinder durch das jahrelange Arbeiten in der Gruppe und die Erfahrung der Selbstbestimmtheit flexibel und resilient genug seien, um mit allen Herausforderungen umzugehen – und die Gesellschaft ein wenig zu verändern. „Es geht nicht nur um Lese- und Schreibkompetenz“, meint Lang-Winter. „Von den Jugendzentren in der Umgebung hören wir, dass unsere Schüler:innen sich auch mehr um Kinder kümmern, die nicht zur Familie oder zum engen Freundeskreis gehören. Das macht mich richtig stolz.“