Blick in die Zukunft

Ein Schultag im Jahr 2035

Viele Schüler:innen, die in diesem Jahr eingeschult wurden, machen im Jahr 2035 Abitur. Wie sieht der Unterricht in dieser gar nicht so fernen Zukunft aus? Welche Technologien kommen zum Einsatz? Was kommt auf die Lehrkräfte zu? Ein Gedankenspiel.

Text
Christoph Koch
Illustrationen
Serge Seidlitz
Datum
15. September 2022

8:45 Uhr

Es ist ein sonniger Tag im Mai 2035, als Djamila aus dem Bus mit Elektroantrieb aussteigt und auf das Schulgebäude zugeht. Bildungspolitik ist 2035 Bundessache, und das 2029 gegründete Bundesbildungsministerium ist im Jahr zuvor den Vorschlägen der Schlafforscher gefolgt und hat den Unterrichtsbeginn auf neun Uhr gelegt, um dem Biorhythmus der Kinder und Jugendlichen entgegenzukommen. Inzwischen hat sich Djamila an die Verschiebung gewöhnt. Sie schaltet ihre Datenbrille, mit der sie sich im Bus gerade noch ein Video über die Fotosynthese angesehen hat, in den Augmented-Reality-Modus (AR). Über das Schulgebäude legt sich ein digitales Gitter, und ein kleiner Raum im zweiten Stockwerk wird farbig hervorgehoben. „Dreharbeiten für Bio-Referat-Video – Beginn 9:00 Uhr“ steht daneben. 

„Ich glaube, es wird in Zukunft mehr unterschiedliche Räume in den Schulgebäuden geben statt zig identische Klassenzimmer“, prophezeite schon 2022 der Bildungs-Youtuber Mirko Drotschmann (alias MrWissen2go). „Warum nicht einen Raum mit Videoequipment bereitstellen oder einen, in dem Kinder eigenständig Physikexperimente durchführen können?“

Schulweg aus der Zukunft?
Zur Schule mit dem Jetpack? Wohl auch 2035 ein ferner Traum. Aber vielleicht hat immerhin der Schulbus einen E-Antrieb?

10:30 Uhr

Nach dem Videodreh trifft sich Djamila mit einer Lerngruppe, um sich für eine Prüfung in Geschichte in der kommenden Woche vorzubereiten. In einer gemütlichen Sofaecke im Erdgeschoss sitzt sie mit drei Mitschülerinnen zusammen. Ein weiterer Klassenkamerad ist per Videokonferenz zugeschaltet. Er hat später noch einen Arzttermin am anderen Ende der Stadt und muss so nicht den ganzen Schultag versäumen.

„Schule hat viel mit Beziehung zu tun. Auch 2035 wird das Schulgebäude deshalb als Lern- und Präsenzort wichtig bleiben“, gab Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, 2022 zu Protokoll. „Einen Unterricht komplett als Remote-Veranstaltung, ähnlich dem Homeoffice in manchen Firmen, sehe ich für die Schule nicht. Trotzdem sind eine gute digitale Ausstattung und intensive Vernetzung notwendig, damit auch punktuell Fernunterricht stattfinden kann oder Schülerinnen und Schüler von zuhause mit der Klasse und den Lehrkräften in der Schule interagieren können.“

Dank eines intelligenten Audio- und Mikrofonsystems kann sich die Runde problemlos miteinander verständigen, obwohl sich die Teilnehmer:innen nicht am selben Ort befinden. Für ihre gestrige Lernrunde hatten sich Djamila und ihre Mitschüler:innen alle ihre VR-Brillen aufgesetzt, um sich als digitale Avatare in einem virtuellen Römischen Reich zu unterhalten. Diesmal sprechen sie jedoch von Angesicht zu Angesicht miteinander, um das Gelernte ein letztes Mal zusammenzufassen und sich gegenseitig abzufragen. 

„Denjenigen, die 2035 die Schule verlassen, steht der Arbeitsmarkt so weit offen, wie kaum einer anderen Generation zuvor. Durch den demografischen Wandel müssen sich Arbeitgeber nach den Menschen richten, nicht mehr umgekehrt. Und diejenigen Absolventinnen und Absolventen, die entsprechend qualifiziert sind, werden sich ihre Arbeitgeber mehr oder weniger aussuchen können.“

Zitat vonMirko Drotschmann, erfolgreicher Wissens-Youtuber (MrWissen2go)

11:15 Uhr

Herr Gierlinger, der die Geschichtsprüfung als interaktive Online-Klausur ausgearbeitet hat, räumt gerade gemeinsam mit der Schulpsychologin Frau Matthew das alte Lehrerzimmer aus. Statt eines großen Lehrerzimmers sind mehrere kleine Räume entstanden, in denen die Lehrkräfte entweder in Gruppen zusammenarbeiten, Präsentationen im Team vorbereiten oder Tests still korrigieren und dabei für die Schülerinnen und Schüler besser ansprechbar sind.

Auch Ruheräume wurden geschaffen, um bei aller Transparenz und Erreichbarkeit Möglichkeiten zum Rückzug zu schaffen. „Ich werde unser gemütliches, altmodisches Zimmer hier vermissen“, sagt Gierlinger, als er die alte Kaffeemaschine aussteckt. „Aber ich bin trotzdem froh, dass wir die neuen Räume haben. Wir müssen uns ja gleich noch mit dem Sozialpädagogen aus dem Jugendzentrum und der Klassenleiterin zusammensetzen und besprechen, wie wir mit Benni aus der 8a weiter vorgehen“, sagt er. „Das geht einfach besser in dem neuen, kleinen Besprechungszimmer.“ 

„Das System Schule ändert sich nur langsam. Eine Automechanikerin, die in den 1970er-Jahren ausgebildet wurde, wird in einer modernen Autowerkstatt schnell an ihre Grenzen stoßen. Ein Lehrer, der in derselben Zeit studiert hat, findet sich heute im Klassenzimmer immer noch gut zurecht. Ich wünsche mir sehr, dass die Prinzipien von Unterricht und Wissenstransfer bis 2035 ein Update erfahren.“

Zitat vonDr. Dagmar Wolf, Robert Bosch Stiftung, Bereichsleitung Bildung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren im Lehrerzimmer ausschließlich Pädagoginnen und Pädagogen unterwegs gewesen – oft als Einzelkämpfer:innen. Schon eine ganze Weile her. 2035 werden fertige und bewährte multimediale Einheiten  in der schuleigenen Cloud allen Lehrkräften zur Verfügung gestellt – und auch deutschlandweit auf die Plattform TeachR hochgeladen. Warum soll man bei null anfangen, wenn andere schon 120 Prozent gegeben haben? 

Virtual Reality im Unterricht
Virtual- und Augmented-Reality-Apps werden 2035 vermutlich so präsent sein wie heute der Beamer und früher der Tageslichtprojektor.

„Wir werden viel häufiger multiprofessionelle Teams und Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern sehen“, hat Dr. Dagmar Wolf, die bei der Robert Bosch Stiftung den Bereich Bildung leitet, 2022 vorausgesagt. „Viele Probleme werden im Elternhaus nicht erkannt. Da kann eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt oder therapeutischen Partnern extrem helfen, wenn wir Schüler:innen mit Problemen nicht verlieren wollen.“ Das Kind müsse dabei im Zentrum stehen, und alle Pädagog:innen, die mit ihm zu tun haben, müssten in den Austausch gehen. „In der Schule der Zukunft darf Zusammenarbeit nicht nur von den Kindern und Jugendlichen erwartet werden. Sie muss ihnen auch vorgelebt werden.“

„2035 werden endgültig alle verstanden haben, dass das Abiturzeugnis kein Abschluss-, sondern ein Zwischenzeugnis ist. Der Schul-Stoff ist nur ein Zwischenstand, der spätestens nach zehn Jahren aktualisiert werden muss. Nicht mit zwei oder drei Weiterbildungstagen im Jahr, sondern zum Beispiel, indem man für eine Weile aus dem Job rausgeht, ein Reboot-Jahr macht und sein Wissen komplett auffrischt.“

Zitat vonSven Gábor Jánszky, Zukunftsforscher

15:00 Uhr

Trotz Videoraum und Lernecken hat Djamilas Lerngruppe nach wie vor auch ein großes Zimmer. „Das ist wichtig, gerade jüngere Kinder brauchen ein solches Zuhause“, hat Björn Lengwenus, Schulleiter und Spielpädagoge aus Hamburg bereits 2022 festgestellt.

Im Mathematikunterricht praktiziert Djamilas Klasse nun das, was man personalisiertes oder adaptives Lernen nennt. An ihren Laptops und Tablets arbeiten die Schülerinnen und Schüler eigenständig Aufgaben durch. Der Algorithmus eines KI-Systems wählt dabei individuell aus, welche Aufgabe als Nächstes kommt. Beantwortet Djamila beispielsweise alles fehlerfrei, werden die Aufgaben anspruchsvoller. Macht sie Fehler, folgt eine vergleichbare Aufgabe, vielleicht mit einem etwas leichteren Schwierigkeitsgrad oder anhand eines anderen Lerngegenstands. Bemerkt das System, dass Djamila zum Beispiel bei Aufgaben mit Prozentrechnung immer wieder Schwierigkeiten hat, erhält die Mathematiklehrerin eine Nachricht und kann diesen Inhalt noch einmal gezielt mit ihr und anderen Schülerinnen und Schülern durchgehen, die am selben Thema hängen geblieben sind. 

„Ich hoffe sehr, dass wir 2035 noch ein Abitur haben, das eine Studienberechtigung darstellt, die an den Universitäten eingelöst wird. Wenn alles gut läuft, werden wir dann auch ein Abitur sehen, das endlich bundesweit vergleichbar ist. Wenn es jedoch nicht so gut läuft, werden wir zum Beispiel Hochschuleingangs­prüfungen sehen, wie wir sie heute schon aus anderen Ländern kennen.“

Zitat vonHeinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL) und ehemaliger Gymnasiallehrer und Schulleiter

„Digitales personalisiertes Lernen wird immer wichtiger werden, denn es hat zahlreiche Vorteile“, prophezeite der Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky schon 2022. „So ein KI-System ist in der Lage, individuell zu erkennen, wenn ein Kind abschweift. Und es merkt, welche Inhalte verstanden wurden und bei welchen die Lehrkraft noch mal ganz gezielt und individuell nacherklären sollte. Dafür haben diese wiederum Zeit, weil die KI die ganze mühsame Korrekturarbeit erledigt.“ Zu lange hätten Lehrkräfte – zum Beispiel durch Klassenarbeiten – erst stark zeitverzögert erfahren, wie viel des Stoffs von wem in der Klasse wirklich verstanden wurde und wo individueller Nachholbedarf besteht.

Auch Schulleiter Lengwenus glaubt an das Konzept des adaptiven Lernens, war aber schon 2022 der Ansicht, dass es nur im sogenannten „Drill and practice“-Bereich funktioniert, also bei Vokabeltests oder Rechenübungen. „Im Beibringen von Inhalten sind die Computer leider nicht so gut. Auch muss es immer wieder den Punkt geben, an dem alle zusammenkommen und an dem es Austausch, Gruppenarbeit, Präsentation und Diskussionsphasen gibt. Schule kann nicht bedeuten, dass jede und jeder nur für sich allein dasitzt.

Smart Pen im Unterricht
Smartpens können zwar auf allen Oberflächen schreiben, malen, skizzieren – aber die richtige Antwort muss man selbst wissen.

19:00 Uhr

Djamila räumt zuhause den Abendessentisch ab. Beim Essen hat sie von ihrem Videodreh erzählt, gleich will sie ihren Eltern den Rohschnitt auf der Smartwall im Wohnzimmer präsentieren. Erst hören sie aber noch gemeinsam den Elternbrief an, den die Schulleitung seit diesem Jahr auch als Audionachricht verschickt und der per Knopfdruck in alle denkbaren Sprachen übersetzt wird. Seitdem sind die Öffnungs- und Rückmelderaten deutlich gestiegen, so das erste Ergebnis einer Evaluierung.

„Oft wird gesagt, dass man 2035 nichts mehr wissen muss. Man könne schließlich alles in Sekundenschnelle nachsehen. Aber ein paar Fakten muss man im Kopf haben. Schon allein, damit man Dinge einschätzen kann und die viel beschworenen Zusammenhänge auch verstehen kann. Wer weiß, dass Kolumbus 1492 in Amerika landete und 1789 die Französische Revolution stattfand, hat ein viel besseres Gefühl für die geschichtlichen Veränderungen in diesen Zeiten.“

Zitat vonBjörn Lengwenus, Spielpädagoge und Schulleiter der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg

„Als ich 2003 meinen Abschluss gemacht habe, dachte ich, die Schule ist letztlich immer noch genau so wie zu Zeiten meiner Großmutter“, sagt Djamilas Mutter als die Nachricht zu Ende ist, in der es unter anderem um die Klimabilanz des Feuchtbiotops im Pausenhof ging und um ein neues Schulprojekt zum Thema Cybersicherheit, das mit der Partnerschule aus Nicaragua durchgeführt wird. „Aber manches ändert sich im Lauf der Zeit eben doch.“

Hinweis: Nicht alle im Text geschilderten Szenarien sind nach Ansicht der Robert Bosch Stiftung oder der befragten Expertinnen und Experten wünschenswert. Auch über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens bis 2035 gehen die Ansichten naturgemäß auseinander.

Das Dossier zum Thema
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Die Gesellschaft wird immer vielfältiger. Wie können Schulen den Bedürfnissen und Potenzialen aller Schüler:innen gerecht werden?
15. September 2022