Aufklärung zur Einwanderungsgesellschaft

„Der Mediendienst Integration ist heute so wichtig wie im Jahr seiner Gründung“

Vor zehn Jahren wurde der Mediendienst Integration gegründet. Wie hat sich die gesellschaftliche Debatte seitdem verändert? Darüber diskutieren Ferda Ataman, Anti­diskriminierungs­beauftragte des Bundes, und Dr. Mehmet Ata, Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Mediendienstes Integration.

Text
Marija Latković
Bilder
Thomas Lobenwein, Julia Teek, Sarah Eick, A. Salzmann
Datum
20. September 2022

Seit zehn Jahren gibt es den Mediendienst Integration (MDI), ein Grund zum Feiern. Andererseits: Ist es nicht auch bezeichnend, dass es dieses Angebot 2022 immer noch braucht? Müsste Deutschland beim Thema Integration nicht schon viel weiter sein?

Ferda Ataman: Das Ziel des Mediendienstes ist es sicher auch, irgendwann überflüssig zu werden, zumindest als Mediendienst zum Thema Einwanderungsgesellschaft. In diese Richtung gab es zwar viele Fortschritte, aber an diesem Punkt sind wir noch nicht. Ich würde sogar sagen: Zehn Jahre nach seiner Gründung ist der Mediendienst mindestens so wichtig wie damals. 

Mehmet Ata: Der Mediendienst ist und bleibt eine sinnvolle Einrichtung, weil wir einen nüchternen Blick auf Themen der Einwanderungsgesellschaft bieten. Wir wollen Fakten zur Verfügung stellen, wissenschaftliche Erkenntnisse. Es ist wichtig, in einem so emotional aufgeladenen Themenbereich eine Datenbasis zu liefern. 

Frau Ataman, Sie waren von Anfang an beim MDI dabei. Wie kam es zur Gründung?

Ferda Ataman: Im Rahmen des Nationalen Integrationsplans gab es unter anderem die Arbeitsgruppe Medien. Dort war allen klar: Medien sollen diverser werden, aber es fehlen Menschen mit Migrationshintergrund, die sich dort bewerben. Zum anderen hat man gemerkt, dass oft über Migration gesprochen wurde, ohne Migrant:innen. Und drittens waren da Wissenschaftler:innen, die sagten, öffentliche Debatten über Migration und Integration würden überwiegend kontrafaktisch geführt. 

„Das Ziel des Mediendienstes ist es sicher auch, irgendwann überflüssig zu werden, zumindest als Mediendienst zum Thema Einwanderungs­gesellschaft.“

Zitat vonFerda Ataman, Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung und Mitbegründerin des Mediendiensts Integration

So wie die Kontroverse über die Thesen von Thilo Sarrazin im Jahr 2010?  

Ferda Ataman: Genau. „Die Integration ist gescheitert“ – das war damals das große Thema. Die wissenschaftliche Faktenlage legte aber eher den gegenteiligen Schluss nahe. Aber es gab kaum Fachjournalist:innen, die regelmäßig über Erfolge berichteten. Aus Studien wurden oft falsche Schlüsse gezogen. So entstand die Idee für eine niedrigschwellige, fachlich versierte Informationsplattform, getragen von Wissenschaftler:innen. 

Mehmet Ata: Heute kommt keine Redaktion mehr an diesen Themen vorbei, was auch bei Veranstaltungen des Mediendienstes sichtbar wird. Um es zugespitzt zu sagen: Einwanderung ist nicht mehr nur ein Thema für Praktikant:innen und Volontär:innen. Das erhöht zugleich die Ansprüche an uns. Anfragen werden komplexer und das Themenfeld immer breiter.

Integration spielt in nahezu jedem gesellschaftlichen Bereich eine Rolle. Warum entschied man sich 2012 für einen Mediendienst?

Ferda Ataman: Massenmedien entscheiden maßgeblich darüber, was Menschen über bestimmte Themen wissen oder eben nicht wissen – besonders in Bereichen, in denen sich die Öffentlichkeit nicht gut auskennt. Ist die Darstellung vereinfachend und pauschal, entsteht beim Publikum ein stereotypes, einseitiges Bild. Heute haben zwar viele Menschen Kontakt zu Einwandererfamilien, vor allem in Ballungszentren, aber es bleibt dabei, dass die meisten Menschen ihr Wissen über „den Islam“ oder „die Flüchtlinge“ aus Massenmedien beziehen. 

Mehmet Ata: Im Kern geht es um das Abbilden von Komplexität. Nehmen wir ein Beispiel: Wir hatten ein Pressegespräch mit dem Robert Koch-Institut zum Thema Impfbereitschaft von Menschen mit Migrationshintergrund. Das RKI hatte in einer Befragung herausgefunden, dass diese Menschen im Schnitt seltener geimpft waren. Unter den Nicht-Geimpften gab es aber im Vergleich zu nicht-geimpften Menschen ohne Migrationshintergrund gleichzeitig eine höhere Bereitschaft, sich impfen zu lassen, wenn man sie anders bzw. zielgerichteter anspricht. Diese Komplexität sollte sich in der Berichterstattung widerspiegeln.

Wo führt diese Komplexität aus Ihrer Sicht besonders häufig zu Fehlschlüssen?

Mehmet Ata: Eine große Rolle spielt leider immer noch, dass soziale Phänomene oft kulturell gedeutet werden. Wenn Leute aus einem Nicht-Akademiker:innen-Haushalt kommen und schlechtere Startbedingungen haben, wird das schnell ihrem kulturellen Hintergrund zugeschrieben. Da besteht Bedarf, genauer hinzusehen, woran es wirklich liegt. 

Ferda Ataman: Mir fällt außerdem auf, dass auf Menschen mit Migrationsgeschichte vor allem problemorientiert geschaut wird. Den Blick dafür zu öffnen, wie es besser sein und laufen könnte, kommt zu kurz.

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Mediendienst Integration

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Die Robert Bosch Stiftung fördert den Mediendienst Integration darin, den Wissensstand im Thema Einwanderungsgesellschaft durch praxisorientierte Forschung und Erkenntnisse zu aktuellen Debatten zu erweitern. Die Ergebnisse und Analysen sollen so weit wie möglich in die Gesellschaft hineingetragen werden, um den Nutzer:innenkreis über ein journalistisches und akademisches Publikum hinaus zu erweitern und möglichst viele Menschen für seine gesamtgesellschaftlich relevanten Themen zu gewinnen.

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Wie wichtig ist das Aufzeigen von Chancen und Lösungen für den Mediendienst?

Mehmet Ata: Uns geht es vor allem darum, Erkenntnisse aus der Wissenschaft in Debatten einzubringen, Dinge zu versachlichen, Zahlen und Fakten zu liefern. Wenn sich Menschen mit Migrationshintergrund seltener impfen lassen, ist es so. Andere können diesen Umstand kommentieren oder deuten, aber wir liefern erst mal die wissenschaftliche Grundlage für die Auseinandersetzung. Das war ja ein Problem der Sarrazin-Debatte: Zu vielen seiner Behauptungen gab es keine Zahlen, also hat er bestimmte Dinge einfach behauptet, was er später selbst eingeräumt hat. 

Ferda Ataman: Ein sachlicher Blick auf die Themen kann die Basis für mehr lösungsorientierte Ansätze sein. Bildungsforscher:innen sagen zum Beispiel schon lange, dass sich getrennter Schulunterricht nicht eignet, um Kindern ohne ausreichende Vorkenntnisse Deutsch beizubringen. Trotzdem sind viele Kinder auch nach 2015 noch zu lange in den Willkommensklassen geblieben. Valide Daten zeigen jedoch, dass diese Kinder in Regelklassen schneller Deutsch lernen. Diese Ergebnisse sollten Politik und Verwaltung in den Blick nehmen.

Was hat sich in den vergangenen zehn Jahren verbessert?

Mehmet Ata: Dass Migration und Integration heute große gesellschaftliche Themen sind, ist ein Erfolg. Genau wie der Umstand, dass von Rassismus Betroffene häufiger zu Wort kommen als damals. Es gibt mehr Expertise in Redaktionen, insgesamt eine andere gesellschaftliche Sensibilität, insbesondere unter jungen Menschen. 

Ferda Ataman: Früher gab es sehr wenige Wissenschaftler:innen, die beim Thema Einwanderung und Integration angerufen wurden, wie zum Beispiel Klaus Bade. Heute stehen viel mehr Nummern in den Adressbüchern von Journalist:innen – für Bildungsfragen, Neuzugewanderte, Osteuropa, Migrationsgeschichte, zu allen möglichen Aspekten. Und dieser fachliche Input hilft sehr im Diskurs. Bei Rassismusfragen könnte sich aber noch mehr tun. Immerhin werden hier oft Betroffene gefragt, aber die wissenschaftliche Perspektive und valide Daten kommen noch zu kurz. Die Black Lives Matter-Debatte 2020 kam zum Beispiel monatelang ohne deutsche Rassismusforschung aus. 

„Dass Migration und Integration heute große gesellschaftliche Themen sind, ist ein Erfolg. Genau wie der Umstand, dass von Rassismus Betroffene häufiger zu Wort kommen als damals.“

Zitat vonMehmet Ata, Leiter Mediendienst Integration

Welche Herausforderungen sehen Sie künftig? Und wie kann der Mediendienst einen Beitrag zu ihrer Lösung leisten?

Mehmet Ata: Mir ist wichtig, dass wir uns weiterentwickeln, auch weil sich die Ansprüche an unsere Arbeit ändern. Spannend fand ich deshalb unsere Zusammenarbeit mit der Uni Bielefeld zum Thema Hatespeech gegen Journalist:innen. Da haben wir die Befragung nicht nur ausgewertet, sondern waren bereits an der Konzeption beteiligt. Und 2021 haben wir mit der TU Dortmund eine E-Learning-Plattform zu unseren Themen entwickelt. Neben Medienschaffenden nutzen heute zunehmend auch Verwaltung, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft unser Angebot, weil es keine andere unabhängige Stelle gibt, die in diesem Bereich so viele Fakten und Studien gebündelt hat. 

Ferda Ataman: Interessant ist, wie schnell sich in diesem Bereich die Koordinaten verändern. Als wir 2012 angefangen haben, ging es viel um Deutschland als Auswanderungsland und Einwanderung aus Europa. 2015 redeten plötzlich alle wieder über Geflüchtete aus Syrien und Afrika. Aktuell geht es mehr um Arbeitskräftemangel. Die Herausforderungen verändern sich. Das zeigt, warum sich der Mediendienst weiterentwickeln muss, aber auch, wie notwendig er ist. Migration und Integration sind eben kein Ausnahmezustand, den man punktuell politisch anguckt, um eine Lösung zu finden und abzuwickeln. Deutschland ist und war schon immer ein Einwanderungsland mit allem, was dazugehört. Und die Themen hören deshalb nie auf.

Vermissen Sie diese Einsicht bei Politik und Zivilgesellschaft?

Mehmet Ata: Es wäre schon spannend, wenn die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen einander besser zuhören würden. Vieles, worüber wir jetzt im Rassismuskontext sprechen, ist in den vergangenen zwei, drei Jahren aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden – diese Diskussionen wurden von Rassismusbetroffenen selbst angestoßen. Für Politik und Medien spielt es jetzt eine größere Rolle. Aber man könnte Betroffenen noch mehr zuhören, weil sie Expert:innen sind, denn Rassismus hat auf ihr Leben unmittelbare Auswirkungen.  

Ferda Ataman: Es hilft, wenn die Politik vielfältige Perspektiven integriert und auch selbst vielfältiger wird. Das gilt aber nicht nur bei Antirassismus, sondern auch bei anderen Diskriminierungsformen. Im Moment verstehen viele Menschen unter Diversität und Antidiskriminierung, dass man einfach abzählt und dann muss zum Beispiel jede vierte Person einen Migrationshintergrund haben. Aber Diversität ist ja vor allem wichtig, weil Menschen einen unterschiedlichen Blick mitbringen. 

Klingt, als hätten Sie konkrete Vorstellungen.

Ferda Ataman: Insgesamt würde ich mir mit Blick auch auf mein neues Amt wünschen, dass das Thema Antidiskriminierung in der Breite, in der es verstanden werden muss, gesehen wird – auch in Bezug auf Altersdiskriminierung, Menschen mit Behinderungen, Geschlecht, sexuelle Identität, Religion und Weltanschauung. Denn dies trifft ja auch alles auf Migrant:innen und ihre Nachkommen zu – sie sind jung und alt, haben Behinderungen oder unterschiedliche sexuelle Identitäten. Ich fände es toll, wenn sich der Mediendienst intersektionaler aufstellt.

Mehmet Ata: Zum Teil machen wir das bereits. Uns fallen auch Themen auf, die gesellschaftlich sehr relevant sind, zu denen es aber keine oder kaum Forschung gibt. Da stoßen wir selbst etwas an. 

Ferda Ataman

Sie ist Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung. Die Politikwissenschaftlerin arbeitete zuvor als Journalistin, Publizistin und war Redenschreiberin im Integrationsministerium in Nordrhein-Westfalen. Im Juli 2022 wählte der Bundestag sie zur Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Von 2013 bis 2016 leitete sie den Mediendienst Integration. Ehrenamtlich engagierte sie sich im Verein „Neue deutsche Medienmacher*innen“, die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.

Mehmet Ata

Er hat Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Geschichte studiert und mit einer Arbeit zum „Mohammed-Karikaturenstreit in den deutschen und türkischen Medien“ promoviert. Seine journalistische Ausbildung machte Ata beim Kölner „Express“. Er war anschließend Redakteur bei der „Fuldaer Zeitung“, Autor bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und Pressesprecher des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Seit April 2016 leitet er die Redaktion des Mediendienst Integration, seit April 2019 hat er auch die Geschäftsführung inne.

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