Friedensförderung

„Frieden zu schaffen bedeutet Selbstermächtigung“

Krieg und Konflikte sind seit jeher ungerecht: Diplomatische Entscheidungen werden auf politischer Ebene getroffen, die Folgen spürt jedoch die Zivilbevölkerung. Der Ansatz des lokalen Peacebuildings will diese Dynamik umkehren und Friedensprozesse durch örtlichen Aktivismus stärken.

Text
Philipp Nagels
Bilder
Rebecca Topakian; Peace Direct
Datum
02. April 2024
Lesezeit
8 Minuten

Gefühlt leben wir in besonders gewalttätigen Zeiten. Die Anzahl an Konflikten und Kriegen scheint von Jahr zu Jahr zuzunehmen. Doch stimmt das wirklich? Und noch wichtiger ist die Frage: Wie kann Frieden gefördert werden – besser als bisher?

„Seit 1945 ist das Ausmaß an weltweiter Gewalt rückläufig“, erklärt Dylan Mathews, CEO der Friedensorganisation Peace Direct, „doch das beginnt sich zu ändern.“ 2023 ist die Welt zum neunten Mal in Folge weniger friedlich geworden. In diesem Jahr starben so viele Menschen in bewaffneten Konflikten wie seit 1994 nicht mehr. Das zeigt der Global Peace Index 2023, eine Analyse des australischen Thinktanks Institute for Economics and Peace. Viele der Konflikte spielen sich außerdem nicht mehr zwischen, sondern innerhalb von Ländern ab. Früher sei es bei der Friedensbildung vor allem um Diplomatie und Friedensabkommen auf höchstem politischem Level gegangen, so Mathews. „Heute brauchen wir eine andere Form der Friedensförderung. Wir müssen die lokale Bevölkerung einbeziehen.“

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Peace Direct

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Die lokale Friedensförderung wird auf der ganzen Welt von Peace Direct unterstützt. Die Menschen vor Ort sind die Expert:innen für die Konflikte, die ihre Gemeinschaften betreffen, und nur sie wissen, was nötig ist, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Gefördert von der Robert Bosch Stiftung setzt sich Peace Direct dafür ein, dass diese lokalen Friedensförderinnen und Friedensförderer über die nötigen Ressourcen verfügen, um den Frieden zu verwirklichen.

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Für Frieden auf lokal und global setzen

„Local peace building“ nennt man diesen Ansatz. Die Idee: Die Menschen, die von den Konflikten am meisten betroffen sind, können sie am besten lösen. Der Frieden soll gewissermaßen von unten wachsen, nicht von oben verordnet werden. Mit diesem dekolonialen Ansatz unterstützt Peace Direct seit 2003 lokale Friedensförderinnen und Friedensförderer in aller Welt. Aktuell arbeitet die Organisation mit Partner:innen in 14 stark konfliktbelasteten Ländern zusammen, darunter Pakistan, der Ostsudan und Myanmar. Seit 2021 wird Peace Direct von der Robert Bosch Stiftung gefördert. CEO Mathews sagt: „Teilweise ist die Lage in diesen Ländern so gefährlich, dass die meisten internationalen Hilfsorganisationen die Orte verlassen haben. Lokale Friedensbildung bleibt dann die einzige Option – dabei sollte es immer die erste sein.“

„Lokale Friedensbildung bleibt teils die einzige Option – dabei sollte es immer die erste sein.“

Zitat vonDylan Mathews, CEO Peace Direct

Peace Direct sitzt in London und betreibt keine Länderbüros, wie es in der Friedens- und Entwicklungsarbeit sonst üblich ist. Projekte aufsetzen, ein Team ausfliegen und vor Ort einen schnell vorzeigbaren Impact leisten – genau so funktioniert die Arbeit hier nicht. Stattdessen wollen Dylan Mathews und sein Team Verbündete der lokalen Friedensförderinnen und Friedensförderer sein, sagt der CEO. Peace Direct unterstützt ausgewählte Einzelpersonen, Netzwerke und Organisationen mit Hilfsgeldern, Wissen und Trainings. Ziel dabei ist immer, die Menschen vor Ort bestmöglich in die Lage zu versetzen, selbst nachhaltig Frieden zu schaffen.

Thema

Frieden

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Die Robert Bosch Stiftung unterstützt nachhaltigen Frieden durch langfristige Förderung in Konfliktregionen. Mit lokalen Partner:innen initiiert die Stiftung inklusive Friedensprozesse und die Umsetzung von Projekten vor Ort. Der Austausch zwischen Akademiker:innen und Praktiker:innen wird weltweit gefördert, um so lokale Friedensansätze in relevante Debatten einzubringen.

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Historische Konflikte in Osteuropa abbauen

Im Rahmen der globalen Kampagne „Peace Starts Here“ unterstützt Peace Direct zehn lokale Friedensförderinnen und Friedensförderer aus aller Welt. Eine der Beteiligten ist Lida Minasyan aus Jerewan, Armenien. Hier, so Minasyan, geht es darum, Brücken zu bauen – zwischen ihrem Heimatland und dem benachbarten Aserbaidschan; und zwischen Armenier:innen, die aus der umkämpften Region Bergkarabach vertrieben worden sind. Nach einer großen Militäroffensive durch Aserbaidschan flohen mehr als 100.000 Menschen nach Armenien. „Eine ethnische Säuberung“, sagt die Friedensaktivistin.

Blick auf einem Tisch mit Ordnern und Notizblöcken. Am Tisch sitzen zwei Frauen.
Lida Minasyan spricht mit ihren Kolleginnen in der Friedensorganisation.

In den vergangenen Jahrzehnten waren die Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan geschlossen. „Dadurch ist viel wechselseitige Feindseligkeit und Dämonisierung entstanden“, erklärt Minasyan. Wie kann das Brückenbauen gelingen, vor diesem historischen Kontext?

Feministische Friedensprozesse vermitteln

Einen Ansatz bietet das communitybasierte Peacebuilding, welches bestimmte Gesellschaftsgruppen, beispielsweise Frauen aus Grenzgemeinden, vertriebene Frauen oder Jugendliche in den Fokus stellt. Auch Lida Minasyan hat eine klare Vision davon, wie Frieden in ihrer Region gelingt: Nur ein „feminist peace“, ein Frieden, der die Bedürfnisse von allen berücksichtigt, könne nachhaltig sein. Die 31-Jährige ist Co-Gründerin von Women’s Agenda, einer armenischen Organisation, die Frauen bei der Friedensförderung unterstützt. Minasyan engagiert sich für Frauenrechte, seit sie 18 Jahre alt ist, und hat Menschenrechte und Entrepreneurship studiert. Das Jahr 2020, als der Konflikt um Bergkarabach erneut aufflammte, stellte für sie einen Wendepunkt dar. „Ich hatte das starke Gefühl, dass ich mich auf einen feministischen Frieden konzentrieren und selbst aktiv werden muss“, erinnert sie sich. Zusammen mit Knarik Mkrtchyan gründete sie die feministische NGO. Minasyan sieht in dem gewalttätigen Konflikt um Bergkarabach die patriarchalischen Strukturen und Normen gespiegelt, die auch die armenische Gesellschaft prägen: „Wir müssen toxische Männlichkeit adressieren, wenn wir einen nachhaltigen Frieden erreichen wollen.“

Gayane Hambardzumyan spricht mit ihren Kolleginnen
Lida Minasyan schaut auf ihr Smartphone, während dahinter ihr Laptop auf ihrem Schreibtisch aufgeklappt liegt.
Lida Minasyan kommt am heutigen Tag mit zwei Frauen aus ihrem Netzwerk in den Austausch

Mit Women’s Agenda bauen Minasyan und Mkrtchyan ein Netzwerk aus lokalen Friedensförderinnen auf, die verschiedene Hintergründe mitbringen. Aktuell besteht es aus rund 40 Frauen, die als Multiplikatorinnen in verschiedene Bevölkerungsgruppen hineinwirken. Beispielsweise durch Dialogformate – auch mit aserbaidschanischen Frauen, sofern möglich. Treffpunkt der Frauen ist ein kleines Gebäude im Stadtteil Baghramyan der armenischen Hauptstadt. Die Architektur der Sowjetjahre wird vom Gebirgspanorama mit seinen schneebedeckten Gipfeln gerahmt. Die gelblich gestrichenen Räumlichkeiten dienen nicht nur für die Aktivitäten um das Thema Frieden, sondern werden ebenso für gemeinsame Handarbeit oder Veranstaltungen genutzt. Liza Matevosyan und Gayane Hambardzumyan sind zwei der Frauen, die Lida Minasyan hier häufig antrifft.

„Mein ganzes Leben ist bestimmt von Konflikt und Frieden. Denn ich habe mein ganzes Leben in einem Konflikt gelebt, und ich strebe nach Frieden.“

Zitat vonLida Minasyan

Zusammen erarbeiten die Friedensförderinnen neue Narrative rund um Konflikt und Frieden und eine feministische Friedensagenda. Jede der Frauen bringt hierfür ihre eigene, persönliche Geschichte ein. Zudem bietet Women’s Agenda den Frauen Seminare, um sich zu formalen Verhandlungsprozessen weiterzubilden. „Frauen stellen die Hälfte der Bevölkerung dar, sind aber bei den Friedensverhandlungen ausgeschlossen. Das ergibt keinen Sinn“, so Minasyan.

„Frieden zu schaffen bedeutet für mich Selbstermächtigung, weil es mir geholfen hat, die andere Seite des Konflikts zu verstehen und offener zu denken.“

Zitat vonLiza Matevosyan

Eine globale UN-Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass Frieden nachhaltiger ist, wenn Frauen auf den verschiedenen Ebenen des Friedensprozesses miteinbezogen werden. „Meist sind es die Frauen, die ihre Familien in sichere Unterkünfte lotsen und sich um alle kümmern, während die Männer an der Grenze sind“, sagt Minasyan im Gespräch. Dennoch würden Frauen nicht in vollem Umfang in das Krisenmanagement und die Entscheidungsfindung in sicherheitsrelevanten Bereichen einbezogen werden. Dabei müssten sie es unbedingt, erklärt die Friedensaktivistin.

„Bei allem, was ich tue, ist mein Blick auf die Welt geprägt durch Frieden und den Prozess, Frieden zu schaffen.“

Zitat vonGayane Hambardzumyan

Wie nah ist eine friedliche Zukunft?

Aktuell verhandeln die Regierungen von Armenien und Aserbaidschan über ein Friedensabkommen. Damit dieses wirksam werden kann, müssen auch Brücken zwischen der armenischen und der aserbaidschanischen Bevölkerung gebaut werden. Der Prozess sei sehr fragil und komplex, das mache ihr Sorgen, sagt Lida Minasyan. Gleichzeitig zeigt sie sich optimistisch: „Ich bin voller Hoffnung, dass der Konflikt gelöst wird und wir in Frieden leben werden.“

viele Menschen auf einer Demonstration, eine Frau im Vordergrund hält ein Pappschild in die Höhe
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Gerechtigkeit

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Wir stehen vor drängenden Gerechtigkeitsproblemen: Arm-Reich-Schere, globale Ungleichheit, Rassismus, Bildungszugang und Klimagerechtigkeit. Diese erfordern eine gerechte Ressourcenverteilung, Generationengerechtigkeit, Chancengleichheit und faire Umweltbelastungsverteilung. Gerechtigkeit formt uns und beeinflusst Entscheidungen. Lesen Sie hier, wie wir Projekte zur Schaffung von Gerechtigkeit fördern.

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Auch Dylan Mathews von Peace Direct blickt positiv in die Zukunft, trotz der steigenden Anzahl von globalen Konflikten: „Wir glauben, dass eine andere Welt möglich ist.“ Es sei leicht, sich von dem Dauerstrom an negativen Nachrichten in den sozialen Medien deprimieren zu lassen. Dabei sei Frieden möglich – mit Vorstellungskraft, den richtigen Investitionen und der nötigen Ausdauer. Mathews: „Die mutigsten und inspirierendsten Menschen, die ich auf der Welt getroffen habe, waren Friedensförderinnen und Friedensförderer.“

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