Als die Taliban am 15. August 2021 die volle Kontrolle über Afghanistan übernahmen, versuchten tausende Menschen überstürzt aus dem Land zu fliehen. Einer von ihnen ist Mohammad G. Der afghanische Staatsanwalt kam mit Hilfe der von der Robert Bosch Stiftung unterstützten Initiative Kabul Luftbrücke nach Deutschland. Bis heute hat die Kabul Luftbrücke rund 2.500 gefährdete Afghan:innen direkt evakuiert und vielen weiteren bei der Flucht geholfen.
Es war der brutale Zwischenfall in seiner Heimatstadt im August 2021, der den Ausschlag für Mohammad G.s plötzliches Abtauchen gab – als schon lange feststand, dass die Familie Afghanistan verlassen und vor den siegreichen Taliban fliehen muss: Eine Gruppe bewaffneter Männer drang in das Haus der Familie ein, nahm Mohammad G.s Mutter fest, verhörte sie, um zu erfahren, wo ihre Kinder sind. Als sie sich weigerte, ihnen das zu sagen, schlitzten sie der alten Frau das Gesicht auf.
Hätte sie ihnen gesagt, dass ihr Sohn in der Nähe des Hauses mit Bauern sprach, wäre er direkt ermordet worden. Dabei wollte er nur dafür sorgen, dass die Mandelbäume aus dem Familienbesitz auch nach der Flucht weiter gepflegt und ihre Früchte anderen beim Überleben helfen würden. Der Sohn muss sofort fliehen, muss seine schwer verletzte Mutter und seine Frau zurücklassen. Um seine Familie nicht noch mehr zu gefährden, taucht er in der Millionenstadt Kabul unter.
Als Staatsanwalt selbst ins Fadenkreuz geraten
Mit der Misshandlung von Mohammad G.s Mutter wollen die Täter die gesamte Familie treffen. Nicht nur den Staatsanwalt Mohammad, der an Korruptionsfällen arbeitete und ständig Todesdrohungen erhielt, sondern auch seinen Bruder, einen Offizier der afghanischen Armee. Anfang 2021 sitzen die Taliban bereits fest im Sattel der Macht, hunderttausende Menschen sind vor ihnen auf der Flucht. Sie und ihre Verbündeten versuchen jetzt, ihrer ehemaligen Gegner habhaft zu werden, um mit ihnen auf ihre Weise abzurechnen: Sie stecken sie ins Gefängnis, foltern oder erschießen sie. Und wenn die Taliban nicht direkt auf die Gesuchten zugreifen können, bedienen sie sich gerne der Familie, um Druck auszuüben oder um ein Exempel zu statuieren.
Wie geriet Mohammad G. in ihr Fadenkreuz? „Ich habe sechs, sieben Jahre als Staatsanwalt gearbeitet,“ sagt der Anfang 30-Jährige. „Zum einen in der Provinz Daikundi, dann im Anti-Korruptionszentrum Kabul und auch zwischendurch im Gefängnis Bayram, um die dortige Justiz zu entlasten.“ Mohammad kommt dabei immer wieder zweifelhaften Machenschaften auf die Spur. Zum Verhängnis werden ihm die Ermittlungen wegen Betrugs gegen einen mächtigen Warlord. Eine Situation, die auch für den Warlord mit dem Fortgang der Untersuchungen immer unangenehmer wird. Irgendwann erhält Mohammad als zuständiger Staatsanwalt Drohanrufe. Anrufe, die belegen, dass sein genauer Aufenthaltsort bekannt ist. Oder in denen er „Hazara-Boy“ genannt wird. Eine gezielte Erniedrigung, denn die Ethnie der Hazara wird in Afghanistan oft von den anderen Ethnien ausgegrenzt. Durch solche Anrufe wird Mohammad darauf hingewiesen, dass er – und seine Familie – damit auch besonders gefährdet sind.
Der Druck steigt immer weiter
Der Fall wird Mohammad aus den Händen genommen und an den afghanischen Generalstaatsanwalt übergeben, die Ermittlungen stocken. Dafür gerät nun der Staatsanwalt ins Fadenkreuz der Taliban. Viele Leute, gegen die er ermittelt hat, würden jetzt unter den Taliban Karriere machen: „Einer ist Distrikt-Gouverneur, ein anderer arbeitet in der Polizei eines Distrikts,“ erzählt Mohammad. Er glaubt, dass diese ehemaligen Angeklagten die Taliban auf ihn aufmerksam gemacht haben.
Immer weiter steigt der Druck – auch nach der Machtübernahme der Taliban. Mohammad nimmt Kontakt zu einer Europäerin auf, Imogen Canavan. Die Juristin arbeitet heute bei der Kabul Luftbrücke. Er hat sie als Kollegin kennengelernt, nun muss er sie um Hilfe bitten. Mohammad ist mit anderen Familienmitgliedern im Dickicht der Städte untergetaucht, hilft der Luftbrücke bei der Identifizierung und Vermittlung weiterer akut gefährdeter Menschen. Im Januar 2022 kann ein Teil der Familie ins benachbarte Pakistan reisen, im Mai wird Mohammad auf Vermittlung der Kabul Luftbrücke ausgeflogen. Zielort Deutschland. Nun sind zumindest er und Teile der Familie in Sicherheit.
Die Robert Bosch Stiftung setzt sich für eine nachhaltige und menschenwürdige Migrationspolitik ein. Im Kontext Afghanistan, aber auch weltweit, setzt die Stiftung einen besonderen Fokus auf verlässliche und sichere Aufnahmewege für schutzbedürftige Menschen. Städte und Zivilgesellschaft sind bereit, gefährdete Afghan:innen aufzunehmen, aber die Politik muss dieses ergänzende Engagement ermöglichen und selbst verlässliche und sichere Wege der Aufnahme bereitstellen. Neben der Unterstützung der Kabul Luftbrücke als Sofortmaßnahme und einer unabhängigen Analyse zu Evakuierungen und einem Aufnahmeprogramm in Deutschland unterstützt die Robert Bosch Stiftung die Global Refugee Sponsorship Initiative. Sie setzt sich weltweit für den Aufbau und die Umsetzung von staatlich-zivilgesellschaftlichen Aufnahmeprogrammen ein.