Perspektiven einer Flucht

Das syrische Paar Amel El Zakout und Khaled Abdulwahed lernte sich im Exil in der Türkei kennen. Während Khaled legal nach Berlin ausreisen konnte, blieb der Weg für Amel versperrt. Sie entschied sich schließlich, mit Schleppern über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Wie sie Flucht, Distanz und Stereotype erlebten, verarbeiteten die beiden in „Purple Sea“. Auf der Berlinale 2020 hat der von der Robert Bosch Stiftung geförderte Dokumentarfilm Weltpremiere gefeiert. Im Interview erzählen die Filmemacher vom aufwühlenden Prozess hinter „Purple Sea“.

Regina Mennig | Februar 2020
Beine unter Wasser
Amel El Zakout/Khaled Abdulwahed

Der Film "Purple Sea" thematisiert eine Flucht über das Mittelmeer - aus ungewöhnlichen Perspektiven

Amel, „Purple Sea“ dreht sich um Ihre Flucht nach Europa. Worum ging es Ihnen im Film besonders?

Amel El Zakout: Mit dem Film wollte ich meine Sicht auf die Flucht ausdrücken, auf diese harte und schwierige Erfahrung. Ich wollte nicht aus der Perspektive anderer „behandelt“ werden. Es war mir wichtig, nicht als Gruppe gesehen und nicht reduziert zu werden auf den Status als Flüchtling, oder gar auf eine Nummer. Wir sind alle Individuen.

Visuell fokussiert sich der Film auf die Phase, nachdem Ihr Boot gesunken ist, zwischen der türkischen Küste und der griechischen Insel Lesbos. Genauer gesagt findet der Großteil des Films unter Wasser statt. Warum dieser Fokus?

Amel El Zakout: Ich habe meinen Weg von Anfang an gefilmt – ab Istanbul, im Büro der Schmuggler, die Fahrt an die Küste. Es war eine extreme Erfahrung, ich wollte die Erinnerung daran festhalten und während der Fahrt mit etwas beschäftigt sein. Außerdem wollte ich das Erlebte mit Khaled teilen. Ich dachte aber nie daran, einen Film zu machen. Ich habe auch den Teil aufgenommen, bevor das Boot gesunken ist. Dann, im Wasser, hat meine kleine Video-Kamera weiter gefilmt. Sie war an meinem Handgelenk festgebunden und hat so Aufnahmen gemacht, die ganz anders waren als meine Perspektive über Wasser. Dass wir uns im Film auf die Aufnahmen unter Wasser fokussieren, ist eine künstlerische und auch eine persönliche Entscheidung. Ich wollte mich selbst nicht in so einer schwierigen Situation sehen, mich so nicht zeigen. Ich wollte nicht als Opfer gesehen werden. Und ich finde, das gilt genauso für die anderen Menschen im Wasser. Ich habe kein Recht, sie direkt zu zeigen, nur weil ich dort mit ihnen im Wasser war. In den Medien gibt es jede Menge Bildmaterial, das ohne Respekt entsteht, ohne Nachdenken, wie die Menschen darin gezeigt werden oder wie sie gesehen werden wollen.

Die Gewinner:innen des Filmförderpreises 2018 der Robert Bosch Stiftung auf der Bühne mit Blumen und Mikrofon
David Außerhofer

Das Filmteam

Mit dem Vorhaben, ihre Erfahrungen auf dem Weg nach Europa zu dokumentieren, gewannen Khaled Abdulwahed und Amel El Zakout 2018 den Filmförderpreis der Robert Bosch Stiftung, der jedes Jahr im Rahmen von Berlinale Talents verliehen wird (Foto links). Der Preis richtet sich an Nachwuchsfilmemacher:innen aus der arabischen Welt und Deutschland. El Zakout und Abdulwahed haben ihren Dokumentarfilm "Purple Sea" mit der Berliner Produktionsfirma Pong umgesetzt.

Khaled, Sie waren bereits in Deutschland, als Amel sich entschied, übers Mittelmeer zu fliehen. Wie war es für Sie, ihr Filmmaterial zu sehen?

Khaled Abdulwahed: Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um es mir überhaupt ansehen zu können. Es war schrecklich, diese Panik, wie die Menschen versuchen, sich an etwas im Meer festzuhalten. Gleichzeitig konnte ich keine Verbindung zu diesen Bildern aufbauen. Irgendwie weigerte ich mich, sie wirklich zu sehen und mich damit auseinanderzusetzen, mir vorzustellen, dass Amel da drin war. An einem Punkt versuchte ich, mir mich selbst in dieser Situation vorzustellen. Es gelang mir nicht. Das war der große Kampf am Anfang.

Amel El Zakout: Ich habe nicht so lange gewartet, mir das Material anzusehen. Obwohl es hart war, war ich neugierig zu sehen, was die Kamera aufgenommen hatte, um es mit meinen Erinnerungen zu vergleichen. Zuerst kamen beim Ansehen keine Erinnerungen hoch, weil die Kamera ja eine ganz andere Perspektive hatte als ich. Erst später konnte ich beide Perspektiven zusammenbringen… das hatte auch etwas Therapeutisches für mich. Aber es hat mich auch wütend gemacht, mich so zu sehen. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass ich das war. Es fühlte sich an, als beobachtete ich jemand ganz anderen.

Amel musste sich als Teil dieser Tragödie akzeptieren – ich dagegen musste mich mit meiner Distanz dazu auseinandersetzen.

Warum wollten Sie einen Film darüber machen?

Amel El Zakout: Anfangs hatte ich vor allem den Drang, über das Geschehene zu sprechen und es zu verarbeiten. Dabei habe ich unterschiedliche Phasen durchgemacht. Am Anfang war die Frage, wer dafür verantwortlich gemacht werden kann. Deshalb haben wir zuerst Kontakt zu einem Anwalt aufgenommen um zu prüfen, ob es irgendwelche rechtlichen Mittel gibt. Danach meldeten wir uns bei Forensic Architecture [Anm. d. Red.: eine Organisation, die Fälle von Menschenrechtsverletzungen untersucht]. Aber ich bekam immer mehr das Gefühl, dass es eigentlich nicht mein Job ist herauszufinden, was passiert war, warum wir beispielsweise über zwei Stunden im Wasser auf Hilfe warteten. Schlussendlich war mein persönlicher Weg, in einem Film zu verarbeiten, was passiert war – ein sehr individueller Weg. Der Film dreht sich nicht um den Vorfall an sich, sondern um die Erfahrung eines Menschen, der dort im Wasser war.

Wie war es für Sie, diesen Film zu machen – einzeln, aber auch als Paar und Filmteam?

Khaled Abdulwahed: Am Anfang fühlte es sich an wie eine enorme Last. Wie sollten wir mit all den Details dieser Tragödie umgehen, mit all den Menschen, die betroffen waren? Amel musste noch einmal durchleben, dass sie da im Wasser war, sie musste sich als Teil dieser Tragödie akzeptieren. Ich dagegen musste mich mit meiner Abwesenheit auseinandersetzen, mit meiner Distanz und der Frage, wie ich eine Verbindung finden konnte zwischen diesem Filmmaterial und den Erlebnissen, die die Person gemacht hat, die ich liebe. An diesem Film zu arbeiten, war eine großartige Erfahrung - auch die Zusammenarbeit mit dem Team von Pong, die nicht nur unsere Produzenten sind, sondern Teil dieser Geschichte. Wir kennen das Team, seit Amel begann, ihren Weg zu filmen. Sie verstehen, was passiert ist, sie kennen Amels Ebene, meine und unsere gemeinsame Ebene. So haben wir all die Herausforderungen gemeistert, die mit der Arbeit an „Purple Sea“ verbunden waren.