Das fatale Bedürfnis nach Kleinräumigkeit

Wie deutsch sind die Deutschen? Dieser Frage gingen der Politologe Herfried Münkler und der Museumsdirektor Martin Roth bei der Veranstaltungsreihe "Theater x Wirklichkeit" in Stuttgart nach. Von Leitkultur wollten beide nicht sprechen, stattdessen warben sie für Liberalität und ein postnationales Deutschsein.

Robert Bosch Stiftung | Dezember 2016
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Manchmal kann die Vergangenheit tatsächlich wie ein Spiegel sein. Oder wie ein Zerrspiegel, der aktuelle Mängel überdeutlich erscheinen lässt. So ist das etwa mit einer Gedichtzeile, die Kurt Tucholsky im Jahre 1932 verfasst hat: "Deutsche, kauft deutsche Zitronen!" Der irrwitzige Spruch führt uns vor Augen, in welchen Zeiten bornierter Nationalismus auch schon einmal modern war. Mit diesem entlarvenden Zitat hat Rainer Pörtner, Politik-Ressortleiter der Stuttgarter Zeitung, am Sonntagvormittag eine Debatte im voll besetzten Schauspielhaus in Stuttgart eröffnet, von der die beiden Hauptakteure nicht gedacht hatten, dass sie eine solche noch einmal führen müssten. "Wie deutsch sind die Deutschen?" lautet die Leitfrage der gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung und dem Schauspiel veranstalteten Matinee in der Reihe "Theater x Wirklichkeit". Von Leitkultur war zwangsläufig auch die Rede. Allerdings spielte sie in der Antworten auf jene Leitfrage nur eine Nebenrolle.

Für Herfried Münkler, Politikwissenschaftler aus Berlin, wurzelt diese Frage in einem "Bedürfnis nach Kleinräumigkeit", das von einer Tragödie zeuge: der nachlassenden Bereitschaft, in übergeordnete Ideen zu investieren, wie etwa gemeinsame Werte und Rechtsvorstellungen, die das Fundament der Europäischen Union bilden. Europa sei zu lange als Elitenprojekt missverstanden worden. Der Hass gegen Eliten und die Furcht vor den Kollateralschäden einer Wirtschaft, die sich nicht an nationalen Grenzen orientiert, haben gerade Konjunktur, wenn auch vielfach aufgrund "allergrößter Dummheit", wie Münklers Diskussionspartner Martin Roth anmerkt. Er hat die Folgen solcher Dummheit aus nächster Nähe erlebt, seit 2011 leitet Roth das Victoria and Albert Museum in London. 2017 wird er Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart.

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Lichtgut/Verena Ecker

Martin Roth (links) und Herfried Münkler.

"Wahrscheinlich wurde zu lange nicht über Ängste geredet"

Das "Bedürfnis nach Kleinräumigkeit" ist mit der Flüchtlingskrise zu ungeahnter Größe angewachsen. Roth hält alle damit verbunden Ängste jedoch für einen "Popanz" - und Politik, die mit diesen Ängsten spielt, für schlichte Propaganda. Er sieht vielmehr Barmherzigkeit angezeigt, ein altmodisches Wort. "Wir brauchen viele altmodische Qualitäten, um damit umzugehen", fügt der in Stuttgart gebürtige Kosmopolit hinzu. Münkler hingegen gibt zu bedenken: "Man kann Leuten Angst nicht austreiben, indem man sagt: Jetzt seien Sie mal still." Und am Ende der fast zweistündigen Debatte, nach Einwänden aus dem Publikum, muss auch Roth einräumen: "Wahrscheinlich wurde viel zu lange nicht über Ängste geredet."

Was deutsch an den Deutschen ist, mögen die beiden Herren nicht unter dem Stichwort Leitkultur zusammenfassen. Für Roth ist die Suche nach einer solchen absurd, gleichermaßen das Gebot, sich an ihr zu orientieren. Münkler wiederum lehnt diese Wortschablone ab, weil sie exklusiv sei, im Sinne von ausschließend, während er für eine inklusive Identität wirbt, eine Art "Minimalprogramm" an Gemeinsamkeiten. Was er dazu zählt, hat er in seinem Buch über "Die neuen Deutschen" mit fünf Merkmalen umschrieben, die allesamt keine nationalen Besonderheiten sind. Münklers Deutschsein kommt ohne Herkunft, Kulturkanon und Stammbaum aus. Ihm genügen die Bereitschaft, für sich selbst zu sorgen, Leistungswillen, Verfassungspatriotismus und die Überzeugung, dass Religion sowie der individuelle Lebenswandel Privatsache seien. "Das spezifisch Deutsche", formuliert er so pathisch wie vage, sei die Entschlossenheit, eine offene Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Es gebe viele Deutsche, die ihre Identität auf Weißbier, Sauerkraut und Rippchen begründeten. "Denen kann ich doch nicht sagen", so Münkler, "ab nach Hause und Faust lesen".

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Lichtgut/Verena Ecker

Rainer Pörtner (links) und Martin Roth.

Nicht vor den Problemen der Welt kapitulieren

Die beiden Fürsprecher von Toleranz und Liberalität auf dem Podium müssen sich aus dem Publikum freilich vorhalten lassen, sie redeten die soziale Lage schön. Manche Menschen sähen in Flüchtlingen schlichtweg Konkurrenten um Jobs und erschwinglichen Wohnraum. Münkler antwortet darauf, es gebe eine "gefährliche Tendenz, die Probleme der Welt so zu überzeichnen, dass man nur kapitulieren kann".

In Münklers Raster von einem postnationalen, nichtvölkischen Deutschsein fügt sich ein junger Syrer unter den Zuhörern. Er kam 2015 als Flüchtling und spricht besser Deutsch, als die meisten in der Zeit Arabisch hätten lernen können. Sein Appell lautet: Deutschland möge "mehr helfen, damit wir besser integrieren können".

(Armin Käfer, Stuttgarter Zeitung, Dezember 2016)