Alle zwei Sekunden verliert ein Mensch sein Zuhause

Laut UNHCR-Flüchtlingsbericht ist die Zahl der Menschen, die auf der Flucht sind, so hoch wie nie zuvor. Botschafter a.D. David Donoghue arbeitete aktiv an internationalen Abkommen der Migrations- und Flüchtlingspolitik mit. Anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni spricht er im Interview über die Hoffnungen und Erwartungen Geflüchteter, was die nachhaltigen Entwicklungsziele für Vertriebene und Geflüchtete bedeuten und die Ursachen für den Widerstand gegen globale Regelwerke.

Robert Bosch Stiftung | Juni 2019
Interview David Donoghue Header
European Union/ECHO/Pierre Prakash

Herr Donoghue, im vergangenen Jahr waren weltweit mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Wie können der Weltflüchtlingstag und die Aufklärung der Öffentlichkeit ihre Situation verbessern?

David Donoghue: Eines der größten Probleme, mit denen Geflüchtete und hilfsbedürftige Migranten weltweit konfrontiert sind, ist Ignoranz. Unwissenheit über die Notlage dieser Gruppen erzeugt Gleichgültigkeit. Es erhöht das Risiko, dass sie Menschenrechtsverletzungen sowie rassistischer Diskriminierung und fremdenfeindlichen Angriffen ausgesetzt sind. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Umstände, unter denen die Menschen flüchten ist ein wesentlicher erster Schritt, um sicherzustellen, dass Geflüchtete mit der Fairness, der Menschlichkeit und der Würde behandelt werden, auf die sie Anspruch haben. Zugleich bedarf es der Aufklärung der Öffentlichkeit über die positiven Beiträge, die Flüchtlinge und Migranten leisten können und wollen. Es ist mittlerweile weithin anerkannt, dass Vielfalt jede Gesellschaft bereichert. Die Regierungen müssen Maßnahmen ergreifen gegen die Unwahrheiten, die oft bewusst verbreitet werden und die einen schweren Verstoß gegen die Werte der Würde und Gleichheit darstellen, denen wir alle verpflichtet sind.

Während Ihres Aufenthalts an der Robert Bosch Academy haben Sie sich mit den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen auseinandergesetzt. Welchen Einfluss haben die Verpflichtungen „niemanden zurückzulassen“ auf die Situation und Rechte, insbesondere von Binnenvertriebenen?

Aktuell beläuft sich die Zahl der Binnenvertriebenen auf rund 41 Millionen, wobei diese Zahl mit zunehmenden Konflikten in vielen Teilen der Welt steigen dürfte. In der Vergangenheit konnten wichtige Fortschritte erzielt werden, beispielsweise durch die sogenannten „Leitenden Prinzipien“ für die Lösung ihrer Notlage. Jedoch wurden diese Prinzipien nicht universell akzeptiert und galten als nicht verbindlich. Viele Mitgliedstaaten bestanden traditionell darauf, dass Binnenvertriebene eine Angelegenheit der nationalen Souveränität sind.

Die Recherchen gaben mir Einblicke in den neu gewonnen Handlungsspielraum der Vereinten Nationen, um Binnenvertriebene auf globaler Ebene stärker zu unterstützen. Die Agenda 2030 beschreitet neue Wege: Es wird ausdrücklich anerkannt, dass Binnenvertriebene Bedürfnisse haben, die im Rahmen der Nachhaltigen Entwicklungsziele berücksichtigt werden müssen. Auch wenn derzeit kein globaler Konsens darüber besteht, wie viel Schutz ihnen gewährt werden sollte, hat die Agenda Rahmenbedingungen für Fortschritte auf globaler Ebene geschaffen, die es zu erproben gilt. Die Zusammenarbeit zwischen den wichtigsten UN-Organisationen, die Flüchtlinge und Migranten unterstützen und de facto für Binnenvertriebene verantwortlich sind, wird ebenfalls verstärkt.

Interview David Donoghue BildText

Zur Person

Von 2013 bis 2017 war Botschafter a.D. David Donoghue der Ständige Vertreter Irlands bei den Vereinten Nationen in New York, wo er zusammen mit dem Vertreter Kenias als Vermittler bei den UN-Verhandlungen die Annahme der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung möglich machte. Weiterhin war er zusammen mit dem Vertreter Jordaniens für Verhandlungen zuständig, die zur New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten führte. Von Februar bis April 2019 war er Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin.

Gegen den Global Compact for Migration (GCM), der im Dezember verabschiedet wurde, stimmten weltweit 41 Länder. Wie erklären Sie die starken öffentlichen Widerstände?

Der Ursprung des Widerstands gegen den GCM in mehreren EU-Mitgliedstaaten liegt eindeutig in der zunehmenden Unterstützung von Populismus in diesen Ländern, die auch durch die Sorge um die Einwanderungspolitik verstärkt wurde. Die betroffenen Regierungen reagierten unterschiedlich auf diese Entwicklung: Einige haben dem rechtsgerichteten Druck nachgegeben, das Ausmaß ihrer Aufnahmebereitschaft stark eingeschränkt und die Bemühungen zur Schaffung einer EU-Migrationspolitik blockiert. Andere hielten an einer offenen und solidarischen Haltung gegenüber Migranten und Flüchtlingen auf nationaler und EU-Ebene fest.

Die feindliche Reaktion mehrerer EU-Mitgliedstaaten auf das GCM war unlogisch und ungerechtfertigt.    Erstens ist der Pakt nicht rechtsverbindlich, er ist lediglich eine Erklärung des politischen Willens. Zweitens ist die Liste der spezifischen Maßnahmen nur eine Sammlung von Möglichkeiten. Es steht den Regierungen frei, sich aus dieser Liste zu bedienen, wie sie wollen Sie sind nicht verpflichtet, einen dieser Punkte zu akzeptieren. Die Behauptung einiger Mitgliedstaaten, dass dieses Dokument ihnen Politik aufzwingt, mit der sie nicht einverstanden sind, stellt daher eine schwerwiegende Situationsverzerrung dar. Ihre Reaktionen, ob sie sich bei der Abstimmung über den Pakt enthalten oder dagegen stimmen wollten, schienen mir übertrieben.   

Diese Projekte könnten Sie auch interessieren

Migration

Leadership und Beteiligung von Flüchtlingen

Wir fördern flüchtlingsgeführte Organisationen und unterstützten Initiativen für eine inklusivere Politikgestaltung auf globaler Ebene. 

Weiterlesen
Migration

Migration in Afrika-Europa Beziehungen

Wir unterstützen Akteur:innen, ihre Perspektiven in die Beziehungen zwischen Afrika und Europa rund um Migration und Mobilität einzubringen.

Weiterlesen
Einwanderungsgesellschaft

Geflüchtete Mütter stärken

Wir fördern Kooperationen zwischen Organisationen der migrantischen Zivilgesellschaft und Bildungseinrichtungen.

Weiterlesen
Einwanderungsgesellschaft

Integration Hub

Wir fördern Integration Hubs als lokal gestaltete Orte des Austauschs und der Zusammenarbeit von neuzugewanderten und bereits ansässigen Menschen. Der Raum dient der Begegnung, der Beratung und der Entwicklung neuer...

Weiterlesen
Einwanderungsgesellschaft

Moving Cities

Wir unterstützen die Entwicklung und Bekanntmachung einer Online-Plattform, die lokale Ansätze präsentiert, um die Teilhabe von geflüchteten und migrierten Menschen  zu fördern.

Weiterlesen
Klimawandel

Land- und Waldrechte in Subsahara-Afrika

Wir unterstützen indigene Völker und lokale Gemeinschaften in Subsahara-Afrika, die sich für die formelle rechtliche Anerkennung ihrer Land- und...

Weiterlesen
Ungleichheit

Wirtschaft ist Care

Die wachsende Care-Bewegung in Deutschland, Österreich und der Schweiz setzt sich für eine care-zentrierte Neuausrichtung der Wirtschaft ein.

Weiterlesen
Migration

International Detention Coalition

Die Stiftung fördert die International Detention Coalition dabei, sich in Nahost und Nordafrika für lokale und rechtsbasierte Alternativen zur...

Weiterlesen
Ungleichheit

Making Voices Heard and Count

Wir unterstützen die 2017 gegründete "Leave No One Behind"-Partnerschaft, die einen datenbasierten Ansatz entwickelt hat, um auf lokaler und...

Weiterlesen
Klimawandel, Ungleichheit

Lokale Strategien für eine bessere Klimaresilienz

Mit der Förderung des Climate Justice Resilience Fund (CJRF) unterstützen wir Menschen aus besonders vom Klimawandel betroffenen Regionen darin,...

Weiterlesen
Einwanderungsgesellschaft

BetterPost - Guter Journalismus auf Social Media

BetterPost ist ein Projekt der Neuen deutschen Medienmacher:innen und setzt sich für eine differenzierte Berichterstattung auf Social Media und...

Weiterlesen