Alle zwei Sekunden verliert ein Mensch sein Zuhause
Laut UNHCR-Flüchtlingsbericht ist die Zahl der Menschen, die auf der Flucht sind, so hoch wie nie zuvor. Botschafter a.D. David Donoghue arbeitete aktiv an internationalen Abkommen der Migrations- und Flüchtlingspolitik mit. Anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni spricht er im Interview über die Hoffnungen und Erwartungen Geflüchteter, was die nachhaltigen Entwicklungsziele für Vertriebene und Geflüchtete bedeuten und die Ursachen für den Widerstand gegen globale Regelwerke.
Herr Donoghue, im vergangenen Jahr waren weltweit mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Wie können der Weltflüchtlingstag und die Aufklärung der Öffentlichkeit ihre Situation verbessern?
David Donoghue: Eines der größten Probleme, mit denen Geflüchtete und hilfsbedürftige Migranten weltweit konfrontiert sind, ist Ignoranz. Unwissenheit über die Notlage dieser Gruppen erzeugt Gleichgültigkeit. Es erhöht das Risiko, dass sie Menschenrechtsverletzungen sowie rassistischer Diskriminierung und fremdenfeindlichen Angriffen ausgesetzt sind. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Umstände, unter denen die Menschen flüchten ist ein wesentlicher erster Schritt, um sicherzustellen, dass Geflüchtete mit der Fairness, der Menschlichkeit und der Würde behandelt werden, auf die sie Anspruch haben. Zugleich bedarf es der Aufklärung der Öffentlichkeit über die positiven Beiträge, die Flüchtlinge und Migranten leisten können und wollen. Es ist mittlerweile weithin anerkannt, dass Vielfalt jede Gesellschaft bereichert. Die Regierungen müssen Maßnahmen ergreifen gegen die Unwahrheiten, die oft bewusst verbreitet werden und die einen schweren Verstoß gegen die Werte der Würde und Gleichheit darstellen, denen wir alle verpflichtet sind.
Während Ihres Aufenthalts an der Robert Bosch Academy haben Sie sich mit den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen auseinandergesetzt. Welchen Einfluss haben die Verpflichtungen „niemanden zurückzulassen“ auf die Situation und Rechte, insbesondere von Binnenvertriebenen?
Aktuell beläuft sich die Zahl der Binnenvertriebenen auf rund 41 Millionen, wobei diese Zahl mit zunehmenden Konflikten in vielen Teilen der Welt steigen dürfte. In der Vergangenheit konnten wichtige Fortschritte erzielt werden, beispielsweise durch die sogenannten „Leitenden Prinzipien“ für die Lösung ihrer Notlage. Jedoch wurden diese Prinzipien nicht universell akzeptiert und galten als nicht verbindlich. Viele Mitgliedstaaten bestanden traditionell darauf, dass Binnenvertriebene eine Angelegenheit der nationalen Souveränität sind.
Die Recherchen gaben mir Einblicke in den neu gewonnen Handlungsspielraum der Vereinten Nationen, um Binnenvertriebene auf globaler Ebene stärker zu unterstützen. Die Agenda 2030 beschreitet neue Wege: Es wird ausdrücklich anerkannt, dass Binnenvertriebene Bedürfnisse haben, die im Rahmen der Nachhaltigen Entwicklungsziele berücksichtigt werden müssen. Auch wenn derzeit kein globaler Konsens darüber besteht, wie viel Schutz ihnen gewährt werden sollte, hat die Agenda Rahmenbedingungen für Fortschritte auf globaler Ebene geschaffen, die es zu erproben gilt. Die Zusammenarbeit zwischen den wichtigsten UN-Organisationen, die Flüchtlinge und Migranten unterstützen und de facto für Binnenvertriebene verantwortlich sind, wird ebenfalls verstärkt.
Zur Person
Von 2013 bis 2017 war Botschafter a.D. David Donoghue der Ständige Vertreter Irlands bei den Vereinten Nationen in New York, wo er zusammen mit dem Vertreter Kenias als Vermittler bei den UN-Verhandlungen die Annahme der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung möglich machte. Weiterhin war er zusammen mit dem Vertreter Jordaniens für Verhandlungen zuständig, die zur New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten führte. Von Februar bis April 2019 war er Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin.
Gegen den Global Compact for Migration (GCM), der im Dezember verabschiedet wurde, stimmten weltweit 41 Länder. Wie erklären Sie die starken öffentlichen Widerstände?
Der Ursprung des Widerstands gegen den GCM in mehreren EU-Mitgliedstaaten liegt eindeutig in der zunehmenden Unterstützung von Populismus in diesen Ländern, die auch durch die Sorge um die Einwanderungspolitik verstärkt wurde. Die betroffenen Regierungen reagierten unterschiedlich auf diese Entwicklung: Einige haben dem rechtsgerichteten Druck nachgegeben, das Ausmaß ihrer Aufnahmebereitschaft stark eingeschränkt und die Bemühungen zur Schaffung einer EU-Migrationspolitik blockiert. Andere hielten an einer offenen und solidarischen Haltung gegenüber Migranten und Flüchtlingen auf nationaler und EU-Ebene fest.
Die feindliche Reaktion mehrerer EU-Mitgliedstaaten auf das GCM war unlogisch und ungerechtfertigt. Erstens ist der Pakt nicht rechtsverbindlich, er ist lediglich eine Erklärung des politischen Willens. Zweitens ist die Liste der spezifischen Maßnahmen nur eine Sammlung von Möglichkeiten. Es steht den Regierungen frei, sich aus dieser Liste zu bedienen, wie sie wollen Sie sind nicht verpflichtet, einen dieser Punkte zu akzeptieren. Die Behauptung einiger Mitgliedstaaten, dass dieses Dokument ihnen Politik aufzwingt, mit der sie nicht einverstanden sind, stellt daher eine schwerwiegende Situationsverzerrung dar. Ihre Reaktionen, ob sie sich bei der Abstimmung über den Pakt enthalten oder dagegen stimmen wollten, schienen mir übertrieben.