Wie können sich Flüchtlinge politisch beteiligen?

In den letzten sechs Jahren hat sich die Anzahl der Flüchtlinge weltweit mehr als verdoppelt. In vielen Ländern ist die Integration dieser Menschen ein viel diskutiertes Thema. Wie können Flüchtlinge selbst am politischen Leben teilnehmen? Im Interview erklärt Lina Antara, wie ein globales Forschungsprojekt Möglichkeiten und Grenzen der politischen Beteiligung beleuchtet.

Lea Wagner | September 2017
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International IDEA/Tomas Spragg Nilsson

Lina Antara vom International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) ist die Projektleiterin der Studie "Refugees, Asylum Seekers and Democracy", die von der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird.

Frau Antara, worum geht es bei Ihrem Forschungsprojekt "Refugees, Asylum Seekers and Democracy"?
Lina Antara:
Wir leben in einer Zeit, in der die Anzahl der Flüchtlinge in unserer Gesellschaft immer weiter zunimmt. Zwischen 2011 und 2017 haben sich die Flüchtlingszahlen weltweit verdoppelt: von 10,4 auf 22,5 Millionen Menschen. Natürlich ist es wichtig, sich Grundbedürfnissen anzunehmen wie denen nach Nahrung, Unterkunft, Sicherheit, Bekleidung und medizinischer Versorgung. Allerdings beschränken sich fast alle Debatten zurzeit auf die humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte von großen Migrationsströmen.

Was hingegen zu wenig Beachtung findet, sind die Auswirkungen auf die Demokratie - und zwar sowohl in den Herkunfts- als auch in den Aufnahmeländern. Dabei sollten wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass Flüchtlinge gleich ein zweifaches Potenzial haben: Im Idealfall sind sie politische Handlungsträger sowohl in ihrem Ursprungs- als auch in ihrem Zielland. Durch unser Projekt wollen wir herausfinden, zu welchem Grad Flüchtlinge bereits politisch beteiligt sind und was wir dafür tun können, um die Situation weiter zu verbessern. Unser Ziel ist es, am Ende der Projektlaufzeit einen Bericht zu haben, der Empfehlungen für Politiker, Mitarbeiter von NGOs und weitere Beteiligte enthält.

Warum ist es für Asylsuchende und Flüchtlinge wichtig, sich in politische Prozesse einzubringen?
Politische Prozesse mitbestimmen zu können, erzeugt das Gefühl, ein aktiver Teil einer Gesellschaft zu sein, dazuzugehören. Wenn sich Bürger für Politik interessieren und diese mit beeinflussen, stärkt das auch die Demokratie. Dazu kommt, dass Flüchtlinge auch auf politische Entwicklungen in ihren Heimatländern Einfluss nehmen können: zum Beispiel, indem sie die in ihrem Aufnahmeland gemachten Erfahrungen mit Demokratie in ihrer Heimat streuen. Deshalb richten wir bei unserem Projekt den Blick nicht nur auf die Aufnahme-, sondern auch auf die Herkunftsländer von Flüchtlingen und Asylsuchenden.

Wie wurden die Länder ausgewählt?
Zunächst haben wir uns die Zahlen angesehen. Wir wollten die Länder identifizieren, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen: sowohl in absoluten Zahlen (wie die Türkei und der Libanon) als auch relativ gesehen, also gerechnet auf die Gesamtbevölkerung (hier steht unter anderem Schweden an der Spitze). Mit der gleichen Methode haben wir uns dann den Herkunftsländern genähert. Politische Berichte, die Gesetzeslage und Sicherheitsanalysen haben unsere Wahl ebenfalls beeinflusst. Bewusst haben wir unseren Blick über Europas Grenzen hinaus schweifen lassen, da wir eine eurozentrische Perspektive vermeiden wollten. IDEA hat das Mandat, sich für die Stärkung von Demokratie weltweit einzusetzen.

Für welche Länder haben Sie sich entschieden?
Für Deutschland, und zwar im Hinblick auf Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan; für Kenia bezogen auf Flüchtlinge aus Somalia und Südsudan; für den Libanon mit seinen syrischen Flüchtlingen; für Südafrika, das viele Flüchtlinge aus der Demokratischen Republik Kongo aufnimmt; für Schweden, mit einem Fokus auf Flüchtlinge aus Somalia und Syrien; für die Türkei im Hinblick auf syrische Flüchtlinge; für Uganda mit dem Schwerpunkt Flüchtlinge aus Südsudan und der Demokratischen Republik Kongo; und zuletzt für Großbritannien und Flüchtlinge aus Afghanistan. Danach haben wir einen Fragebogen entwickelt und den unter Geflüchteten aus den jeweiligen Ländern verteilt. Er dient als Grundlage für Gruppendiskussionen sowie für Einzelbefragungen.

Beschränkt sich das Projekt auf die Fragebögen?
Nein, die Umfrage ist lediglich ein Teil davon. Unser Ziel ist es, Fallstudien für jedes Aufnahmeland zu entwickeln. Diese bestehen aus der Auswertung unserer Befragung, weiteren Daten, Hintergrundinformationen zur Gesetzeslage und vor allem aus länderspezifischen Empfehlungen zu der Frage, wie man Geflüchteten eine politische Teilhabe ermöglicht. Im. September haben sich alle beteiligten Wissenschaftler in Stockholm getroffen, um über erste Ergebnisse und daraus abgeleitete Empfehlungen für den Abschlussbericht zu diskutieren. Der Bericht wird 2018 erscheinen.

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International IDEA/Tomas Spragg Nilsson

Im September trafen sich die Forscher in Stockholm, um erste Ergebnisse ihrer Studien miteinander zu diskutieren und zu vergleichen.

Was sind die ersten Ergebnisse?
Die vorläufigen Erkenntnisse der Forschung in den acht Ländern zeigen sehr unterschiedliche Antworten, teilweise widersprechen sie sich sogar. Es zeigt sich deutlich, dass formelle Teilhabe von Flüchtlingen an politischen Prozessen immer noch ein weit entferntes Ziel in vielen Ländern ist. Informelle Wege der Beteiligung wie zivilgesellschaftliches Engagement oder lokale Initiativen sind eine Alternative für Flüchtlinge, sich Gehör zu verschaffen. Wir analysieren die Ergebnisse jetzt weiter und arbeiten an der finalen Studie.

Sie haben sehr unterschiedliche Länder ausgewählt. Sind die Ergebnisse überhaupt vergleichbar?
Wir versuchen, Hindernisse zu identifizieren, die viele Länder gemeinsam haben, und Lösungsansätze vorzuschlagen, die ebenso auf viele Länder anwendbar sind. Denn in vielen Fällen gibt es erstaunlich viele Übereinstimmungen - wie zum Beispiel, wenn es um Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen geht. Die sind meist bedingt durch in der Bevölkerung des Aufnahmelandes verbreitete Stereotypen.

Die Möglichkeiten, an politischen Prozessen teilzuhaben, sind in den meisten Projektländern stark limitiert. Das liegt daran, dass man in fast allen Ländern die jeweilige Staatsangehörigkeit braucht, um wählen zu können. Die zu erlangen, kann sehr lange dauern: angefangen bei fünf Jahren bis hin zu 15 Jahren. Dennoch gibt es andere Möglichkeiten, Politik mitzugestalten. Zum Beispiel durch das Engagement in der Zivilgesellschaft oder die Mitarbeit bei sogenannten Graswurzelbewegungen. Diese Möglichkeiten, zumindest informell tätig zu werden, sind - sofern überhaupt vorhanden - auf jeden Fall noch ausbaufähig.

Wie haben Flüchtlinge und Asylbewerber reagiert, als sie von dem Projekt erfahren haben?
Die meisten waren sofort begeistert und hoch interessiert am Thema. Viele erklärten sich bereit, mitzumachen, weil sie hofften, bei politischen Entscheidungsträgern Gehör zu finden und dadurch Dinge ändern zu können.

Wie steht es um die Beteiligung in den Heimatländern?
Da gab es große Unterschiede. Einige zeigten kein Interesse an den politischen Verhältnissen in den Heimatländern – zum Teil, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, erst einmal im Zielland anzukommen. Für andere spielt die Situation in der Heimat weiterhin eine große Rolle, auch nach der Flucht.

Gibt es ein Land, wo Geflüchtete wählen können, ohne die Staatsbürgerschaft des Landes zu haben?
Ja, Schweden. Dort kann man auf lokaler sowie auf regionaler Ebene wählen, wenn man drei Jahre am Stück in Schweden gelebt hat. In Großbritannien kann man zwar ohne die britische Staatsangehörigkeit nicht wählen, dafür aber Mitglied einer Partei werden.

Wie ist die Situation in Deutschland?
In Deutschland muss man die deutsche Staatsbürgerschaft haben, um wählen zu können – so wie in fast allen am Projekt beteiligten Ländern. Flüchtlinge können die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen, allerdings ist das oft ein langwieriger Prozess. Dafür gibt es in Deutschland aber zahlreiche andere Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen, zum Beispiel bei NGOs, die sich für Flüchtlingsrechte einsetzen.

Was die Herkunftsländer anbelangt: Inwiefern können Geflüchtete aus der Ferne Einfluss nehmen auf die Politik in ihren Heimatländern?
Manche Länder ermöglichen es ihren Staatsbürgern, aus der Ferne zu wählen. Zudem gibt es informelle Möglichkeiten, sich innerhalb der Diaspora politisch zu engagieren und auf internationaler Ebene auf die Situation in den Heimatländern aufmerksam zu machen.

Haben Sie bei Ihrer Studie Geschlechterunterschiede festgestellt?
Ja. Es gibt nach wie vor hartnäckige kulturelle, religiöse und strukturelle Hindernisse für geflüchtete Frauen, die ihnen die politische Teilhabe erschweren.

Was sind die nächsten Schritte bei Ihrem Projekt?
Wir werden unsere Fallstudien sowie unseren Abschlussbericht fertigstellen. Der wird eine Vergleichsanalyse der Fallstudien sowie Empfehlungen für die bessere Einbindung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in politische Entscheidungsfindungsprozesse enthalten – sowohl in ihren Heimat- als auch in ihren Aufnahmeländern. Der Abschlussbericht wird online einsehbar sein. Vorgestellt werden soll er im März 2018 an mehreren Orten, unter anderem in Berlin, Brüssel und Nairobi.

Welches Ergebnis erhoffen Sie sich?
Wir wollen bei politischen Entscheidungsträgern ein besseres Bewusstsein für die Probleme, aber auch für die Chancen politischer Beteiligung von Geflüchteten schaffen – erneut in den Heimat- sowie in den Aufnahmeländern. Darüber hinaus wollen wir praktische Empfehlungen erarbeiten, die gut in die Tat umsetzbar sind und auf der Analyse der jeweiligen Situation vor Ort beruhen.