"Ich bin kein Sklave meiner Krankheit"

In Deutschland sind rund 40 Prozent aller Menschen von einer chronischen Krankheit betroffen - Tendenz steigend. Dazu zählen Allergien, Asthma, Rheuma, Diabetes oder auch psychische Krankheiten. Meistens können die Betroffenen nicht einfach so weiterleben wie bisher. Sie müssen etwas in ihrem Leben ändern. Wie das gelingen kann, erfahren sie im Selbstmanagement-Programm INSEA.

Alexandra Wolters | Mai 2017
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Photos: Lennart Helal

"Auf gar keinen Fall werde ich jetzt auf alles verzichten. Dann beiße ich eben ein paar Jahre früher ins Gras." Als bei Thorolf Heber 2014 ein starker Diabetes diagnostiziert wurde, reagierte der Rentner zunächst bockig. Als der Arzt ihn aufklärte, dass eine unbehandelte Zuckerkrankheit zu Nierenversagen, Schlaganfall und Erblindung führen kann, setzte er sich noch einmal auf den Patientenstuhl. Heber hörte gut zu und sah schließlich ein, dass er etwas ändern muss: sein Gewicht reduzieren, sich mehr bewegen, regelmäßig den Blutzuckerspiegel messen und Insulin spritzen. All das tat der ehemalige Koch. Heute wiegt der 75-Jährige rund 20 Kilogramm weniger, isst und genießt seine Mahlzeiten ganz bewusst, fährt viel Fahrrad und wandert regelmäßig mit zügigen Schritten durch seine Heimatstadt Hannover.

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Selbstmanagement statt schlechter Laune

Geholfen haben Heber ein starker Wille, seine Familie und Freunde und das von der Robert Bosch Stiftung geförderte INSEA-Programm für chronisch Kranke. Heber und seine Frau wurden 2016 von ihrer Krankenkasse zur Teilnahme an einem INSEA-Kurs eingeladen. In der ersten Stunde redeten die beiden Kursleiter und die zehn Teilnehmer viel darüber, welche Probleme ihre ganz unterschiedlichen Krankheiten mit sich bringen. Und über den Teufelskreis, in den viele geraten: Sie haben Schmerzen, können schlecht schlafen, sind deshalb schlapp, können nicht aktiv sein und den Alltag bewältigen. Das macht schlechte Laune, führt zu depressiven Verstimmungen und oftmals zur Isolation.

"Bei vielen chronischen Erkrankungen ist gar nicht die Krankheit selber das Problem, sondern es sind all diese Symptome, die sie hervorruft und verstärkt", weiß Gabriele Seidel, die an der Medizinischen Hochschule Hannover die INSEA-Koordinierungsstelle leitet. Alleine kommen die meisten nur schwer aus dem Teufelskreis wieder heraus.

Und genau da setzt das INSEA-Programm an, das den chronisch Kranken Selbstmanagement-Werkzeuge für möglichst viele alltägliche Situationen an die Hand geben möchte. Die Teilnehmer lernen zum Beispiel die Kraft positiver Gedanken kennen, mit denen man Schmerzen lindern kann. Sie erfahren, wie wichtig es ist, auf sich selber zu achten und klare Ich-Botschaften gegenüber anderen zu formulieren. Sie bekommen Tipps für eine gesunde Ernährung und erlernen einfache Bewegungs- und Entspannungsübungen.

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Der Kurs macht neugierig

"Das ist nichts für mich, das brauche ich nicht", resümierte Thorolf Heber nach der ersten Kursstunde. Aktiv bin ich, meine Ernährung habe ich erfolgreich umgestellt und von einem Teufelskreis spüre ich auch nichts, befand der Hobby-Tänzer, der am liebsten zu Rock-’n’-Roll-Klängen über das Parkett wirbelt. Zur zweiten Stunde ging er eigentlich nur, um sich höflich abzumelden. Und blieb dann doch die ganzen sechs Wochen.

"Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn mein Leben noch einmal aus dem Gleichgewicht gerät. Dann kann es sicherlich nicht schaden, ein paar Selbsthilferegeln zu kennen." Außerdem haben ihn die Handlungsziele gereizt, die sich alle Teilnehmer und Kursleiter jede Woche setzen. Bei diesem zentralen Bestandteil der INSEA-Kurse sollen die Patienten lernen, sich selbst gut einzuschätzen, realistische Ziele zu setzen und diese in kleinen Schritten zu erreichen.

Klare, selbstgesetzte Ziele

Täglich 15 Minuten Gymnastik, nur drei Zigaretten am Tag, zweimal die Woche vier Kilometer laufen, an drei Tagen vor 24 Uhr ins Bett gehen, mindestens anderthalb Liter am Tag trinken. Die Ziele können ganz unterschiedlich sein. Thorolf Heber nahm sich vor, jeden Tag für mindestens eine Stunde an seinem Modellschiff zu arbeiten. Und scheiterte in der ersten Woche. "Das war zu ambitioniert." Also reduzierte der Bastler seine Aufgabe auf drei Tage die Woche - mit Erfolg. In der letzten Kursstunde konnte der Rentner voller Stolz Fotos von seinem fertigen Dreimaster zeigen. "Es ist ein tolles Gefühl, was man alles schaffen kann. Das hat mir einmal mehr gezeigt: Ich bin kein Sklave meiner Krankheit."